Die Mühen der Berge
»Automobilfeindliche Stiere«, Peitschenhiebe und Bangen vor dem Katschberg: Vor 110 Jahren starteten unerschrockene Automobilisten zur ersten, bald berüchtigten Alpenfahrt. »Graf Kolowrat, vortrefflich bei Laune, machte einige ausgezeichnete Scherze.«
Untröstlich war der Präsident des k. k. Österreichischen Automobil Club, ja wie ein Schock traf es den Verein, der doch gerade eben vom Kaiser zur Führung der Ehrenbezeichnung im Titel ermächtigt worden war – aber das Semmering-Bergrennen würde im Jahr 1910 ausfallen, weil ihm die Behörden die Genehmigung versagten.
Seit 1899 war es jährlich von Schottwien im Renntempo zur Passhöhe hinaufgegangen, und mit den Jahren war das Renommee der Veranstaltung ebenso angewachsen wie die Menge der Zuschauer, von denen viele mit dem Automobil angereist kamen und, inspiriert durch das Spektakel, die Heimfahrt ebenfalls im Renntempo angingen. Bevor die Proteste der Bevölkerung in geschwungene Mistgabeln umschlugen, verhandelte der Niederösterreichische Landtag das Thema, und die höheren Offiziellen, dem Automobil durchwegs zugetan, mussten die Entscheidung gegen das Rennen unterfertigen. Man sieht: Beim Auto hing es immer schon dran, wer am Steuer thront und wer den Staub der Vorbeibrausenden schlucken muss.
Der Wegfall des hochkarätigen Wettbewerbs schuf Raum für ein Experiment, das ein Mitglied des Ö. A. C. zuvor angeregt hatte: eine Fahrt über die Alpenpässe, um die „Bergfreudigkeit“der Automobile zu erproben und zu verbessern. Das Dilemma war ja bekannt: „Bergauf gab der Motor immer zu wenig Leistung und bergab versagten die Bremsen.“
Diabolisch. Europas Autonationen hatten verschiedene Zugänge. In Frankreich, im Flachland, setzte sich die Vollgasrennfahrerei durch. In England, wo früh Tempolimits bremsten, hielt man Geschicklichkeitsbewerbe, sogenannte Trials ab, die deutsche Prinz-HeinrichFahrt verlangte den Tourenwagen Ausdauer, Gleichmäßigkeit und nur etappenweise Höchstgeschwindigkeit ab.
Die Alpenfahrt sollte diesen Varianten die grimmigsten Alpenpässe hinzufügen, einem „diabolischen Gedanken“folgend, wie der Chronist notierte: Auf der einen Seite winkten den Konkurrenten Preise für ein Flachrennen, auf der anderen Seite zwang man sie, die steilsten Pässe mit derselben Übersetzung zu fahren, die sie in der Ebene zum Sieg führen sollte. Wählte der Konkurrent eine niedrigere Übersetzung, dann kam er sicher über die Pässe, dagegen durfte er im Schnelligkeitsrennen auf keinen Sieg rechnen; wählte er eine Übersetzung, die ihm dort Chancen gab, dann drohten ihm die Strafpunkte für „unfreiwilliges Verweilen auf größeren Steigungen“. Das Automobil würde seine Talente also weiter spreizen müssen, um voranzukommen – im Wettbewerb ebenso wie in seiner Verbreitung auf den Straßen.
Derweil startete am 26. Juni 1910 die erste Auflage der Alpenfahrt zum ungünstigen Termin, zeitgleich mit der Zar-Nikolaus-Tourenfahrt in Russland, zwei Wochen nach der Prinz-HeinrichFahrt, die Ferdinand Porsche triumphal gewonnen hatte. Sein AustroDaimler wurde für den Start in Wien nun nicht rechtzeitig fertig. Dafür war die junge böhmische Marke Laurin & Klement, später als Sˇkoda firmierend, prominent vertreten. Chronist Adolf Schmal, Berichterstatter für die 1900 gegründete „Allgemeine AutomobilZeitung“, erfuhr frühmorgens, dass man ihn als Kontrollor einem der drei Laurin & Klement zugeteilt hatte. Jeder der 23 teilnehmenden Wagen war mit mindestens drei Personen besetzt: Fahrer, Chauffeur (was nicht das gleiche war) und Aufpasser, der Verstöße gegen die „Propositionen“zu melden hatte. Immerhin hatte es Schmal mit dem Grafen Alexander „Sascha“Kolowrat gut erwischt: „Ein ausgezeichneter Lenker, der seine Insassen nicht bei irgendeiner Kurve durch ein ungeschicktes Manöver in das Jenseits befördern würde. Das ist bei einer Konkurrenz, wie ich aus Erfahrung weiß, ein beruhigender Faktor.“Und nicht nur das: „Graf Kolowrat, wie immer vortrefflich bei Laune, machte einige ausgezeichnete Scherze.“
Erster Zwischenfall, Neunkirchener Allee: „Wir fuhren einem Wagen vor, und der Kutscher schwang scheinbar absichtslos die Peitsche, deren äußerstes Ende unseren amerikanischen Begleiter über die Wange traf. Graf Kolowrat wollte absolut zum Zweck der Auseinandersetzung mit dem Kutscher einen nach den Propositionen gestatteten freiwilligen Aufenthalt machen, doch Mr. Archibald war versöhnlichen Sinnes: ,It’s only an accident‘, und wir fuhren weiter.“Die Passstraße den obersteirischen Präbichl hinauf gab den Vorgeschmack auf die Prüfung Katschberg, bei der sich sogar „Direktor Porsche“unter die Schaulustigen mischte. Wer es nach Klagenfurt geschafft hatte, konnte den letzten Etappen nach Wien entspannt entgegensehen – beinah: „Trotz aller Vorsichtsmaßregeln gab es auf der Strecke doch ein kleines Akzidenz. Kurz hinter Klagenfurt führte ein Bauer einen jungen Stier. Unseren lautlos dahingleitenden Schieberventilwagen (Schmal war inzwischen auf Minerva-Knight umgestiegen, Anm.) ließ der Stier noch mit gespitzten Ohren passieren. Der folgende Wagen erregte jedoch schon seine Rauflust. Als er dann des MercedesWagens des Herrn Baron Mayr von Melnhof ansichtig wurde, ging er kampfesmutig auf das Fahrzeug los und drückte ihm, ehe der Lenker noch Halt machen konnte, Scheinwerfer und Kotflügel ein. Dann attackierte der Stier den folgenden Wagen, den Mercedes des Herrn Ritter v. Gutmann, dessen Kontrollor einen Moment lang in einer sehr gefährlichen Situation schwebte, sodass er sich schleunigst hinter den Vordersitzen verbarg. Es war ein förmlicher Stierkampf.“
Nach vier Tagen und 867 Kilometern traf das Feld in Wien ein, Laurin & Klement feierten den Dreifachsieg. Die erste Auflage – ein zartes Präludium auf die vier Folgejahre, in denen die Alpenfahrt zu einer fast 3000 km langen, international gefeierten Monsterfahrt eskalierte. Bis der Krieg dazwischen kam und rasende Autos zu den Sorgen gehörten, die man sich wünschte.