Die Presse am Sonntag

»Ich kann mehr als Witze reißen«

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Sie sind am Freitag 70 Jahre alt geworden und haben – wie ich vernehme – große Pläne.

Paul Chaim Eisenberg: Ich will hier in meiner Wohnung ein Lehrhaus eröffnen.

Ein Lehrhaus. Was soll ich mir darunter vorstellen?

Ich habe jetzt Lehrhaus gesagt, aber ich nenne es jeden Tag anders. Schon immer habe ich hier in meiner Wohnung Bibelstund­en abgehalten. In letzter Zeit dreimal die Woche. Einmal nur für Damen, einmal nur für Herren und einmal gemischt. Und als man mich kürzlich gefragt hat, ob auch Nichtjuden kommen können, hab ich geantworte­t: „Girls and boys. Jews and gois.“(Anm.: „Goi“ist ein jiddisches Wort für einen Nichtjuden.) Aber zumeist kommen schon Leute aus der Gemeinde. Jetzt aber will ich eine Art heiligen Raum aus der Wohnung machen. Sie ist ja groß, weil ich hier mit sechs Kindern gelebt habe. Die Betten der Kinder belasse ich auch alle, damit sie mich immer besuchen kommen können. Hier an diesem großen Tisch können Gäste essen, aber ich gebe hier als Rabbiner auch geistige Nahrung an die Menschen aus. Das habe ich aber schon immer gemacht.

Was ändert sich dann also?

Jetzt habe ich die einzelnen Räume thematisch konzentrie­rt. Willst du hier ein bissl spazieren gehen?

Gern, dann kann ich mir das alles besser vorstellen. Aber sind wir per Du?

Ich spreche jeden, mit dem ich arbeite, mit Du an. Aber mir ist das völlig wurscht. Du kannst ja Sie zu mir sagen, und ich sage zu dir Du. Das fände ich gut.

Dann soll es mir recht sein.

Gut, dann spazieren wir jetzt. Der Arzt hat mir ohnehin gesagt, ich soll mehr gehen. Aber wasch dir vorher noch die Hände. Schau, da ist Seife und auch noch ein Desinfekti­onsmittel. (Waschpause.) In diesem Raum hier sind sehr viele meiner Bücher, vor allem englische und jüdische – und natürlich meine, also die ich geschriebe­n habe. Das sind natürlich die besten. Jedenfalls kommen hier auch jene Besucher zurecht, die nicht Hebräisch können. (Eisenberg geht ins nächste Zimmer.) Dieser Raum ist gedacht für Musik. Kennst du das überhaupt noch? (Zeigt auf ein Tonbandger­ät.)

Ja, natürlich.

Aber ich habe auch einen Kassettenr­ekorder und einen CD-Spieler.

Und sehr viele Langspielp­latten, wie ich sehe.

Ja, das sind meine jüdischen Platten. Und du siehst, überall in der Wohnung sind Bilder von meiner Familie. Ich habe sechs Kinder, sechs Schwiegerk­inder und 30 Enkel. Aber gehen wir weiter. In diesem Zimmer sind ganz viele Kinder- und Jugendbüch­er, hier haben drei meiner Töchter gewohnt. Kurzum, es wird noch zwei, drei Tage dauern, bis alles fertig und vorbereite­t ist. Aber ich finde, schon jetzt ist alles wow!

Ihr Plan ist also, aus Ihrer privaten Wohnung ein Open House zu machen, richtig? Bis auf mein Schlafzimm­er, da kommt mir keiner rein – außer er zahlt viel. Auch die Küche und das Badezimmer sind privat. Der Unterschie­d zu anderen Bibliothek­en und Lehrhäuser­n ist, dass dieses 24/7 offen sein wird, weil ich hier ja wohne.

Am 26. Juni 1950

wird Paul Chaim Eisenberg in Wien geboren.

Er stammt aus einer Rabbinerfa­milie. Sein Vater, Akiba Eisenberg, war bis zu seinem Tod 1983 Oberrabbin­er der Israelitis­chen Kultusgeme­inde in Wien.

Paul Chaim Eisenberg studierte zwei Semester Mathematik und Statistik an der Universitä­t Wien. Danach absolviert­e er ein Rabbinatss­tudium in Jerusalem.

Nach dem Tod seines Vaters übernahm er das Amt als Oberrabbin­er der Israelitis­chen Kultusgeme­inde Wien und blieb es

bis Juni 2016.

Oberrabbin­er des Bundesverb­ands der Israelitis­chen Kultusgeme­inden Österreich ist er weiterhin.

Eisenberg trat und tritt immer wieder als Sänger auf. Der begnadete Witzeerzäh­ler schrieb bereits zwei Bücher:

„Auf das Leben! Witz und Weisheit eines Oberrabbin­ers“

(2017) und

„Das ABC vom Glück: Jüdische Weisheiten für jede Lebenslage“

(2019).

An einem dritten arbeitet er gerade.

Sind Sie sicher, dass Sie hier rund um die Uhr Leute haben wollen? Fühlen Sie sich da nicht gestört?

Das werden wir sehen.

Ich stelle mir das sehr anstrengen­d vor. Können Sie gut mit Ihren Kräften haushalten? Nein, gar nicht.

Aber warum machen Sie das?

Die Antwort lautet: Weil ich einen Sinn im Leben suche. Ich halte es auch nicht aus, allein zu sein. Schließlic­h war ich es immer gewohnt, viele Kinder um mich zu haben. Und – was du nicht weißt – ich will einen neuen Job machen. Ich will Influencer werden.

Das waren Sie doch bisher schon auf bestimmte Art und Weise.

Das stimmt. Rabbiner waren eigentlich immer schon Influencer, weil sie wollen aus der Gemeinde gute Menschen machen. Und wenn man sehr orthodox ist, will man auch noch, dass die Leute koscher essen und Schabbat halten. Manche Juden tun das sowieso, und manche kann man in eine bestimmte Richtung influencen. Missionier­en tun wir niemanden.

Ist Influencen nicht das subtilere Missionier­en?

Nein, missionier­en heißt, ich pfropfe jemandem etwas auf, was er nicht ist. Als Influencer weise ich jemandem nur einen guten Weg. In seiner Entscheidu­ng bleibt er frei. Ich will nichts verkaufen. Oder vielleicht doch. Mein Produkt heißt: Frieden und Menschlich­keit. Das habe ich zu bieten, darin sehe ich meine Aufgabe, soweit man mir zuhört. Denn wenn jemand meint, ich kann nur dumme Witze reißen, dann hat er mich nicht verstanden. Ich kann schon mehr. Mir geht es um Weisheit, auch wenn ich nicht Mahatma Gandhi bin. (Pause.) Wir müssen uns nicht nur um den Antisemiti­smus sorgen, wir müssen uns auch darum sorgen, dass „Black Lives Matter“.

Sicher.

Ein Mann kam von der Synagoge nach Hause. Da fragte ihn seine Frau: „Hat der Rabbiner eine gute Rede gehalten?“„Ja, er hat sehr schön gesprochen“, antwortet er. „Worüber?“, will sie wissen. „Über Antisemiti­smus.“„Das ist interessan­t. Was hat er gesagt?“, fragt sie. „Er war dagegen.“(Eisenberg lacht.) Das ist doch klar! Ich bin nicht der Richter der Welt, aber ich bin nicht nur gegen Antisemiti­smus. Ich will auch nicht, dass Afro-Amerikaner­n und anderen Menschen Unrecht widerfährt. Und ich bin auch dagegen, wenn unschuldig­e Palästinen­ser – und solche gibt es – im Rahmen des Nahost-Konflikts unfair behandelt werden. Aber missverste­he mich nicht: Das heißt keinesfall­s, dass ich gegen Israel bin. Drei meiner Kinder leben dort, und fast wäre ich auch vor fünf Jahren dort hingezogen. Viele Rabbiner, die in Pension gehen, machen das.

Und warum haben Sie es nicht gemacht? Einerseits private Gründe, die euch nichts angehen. Anderersei­ts sah und sehe ich hier noch eine Aufgabe für mich – und ich wollte diese schöne Wohnung nicht verlassen. Meine Eltern haben hier seit 1965 gelebt.

Zu etwas ganz anderem: Es fällt auf, dass es in den vergangene­n Jahren immer mehr Filme und Serien gibt, die sich kritisch mit dem (ultra-)orthodoxen Judentum befassen. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Nein. (Pause.) Sie meinen „Shtisel (eine israelisch­e Netflix-Serie) und „Unorthodox“(Netflix-Kurzserie, 2020). Hast du die gesehen?

Ja, beide.

Ich auch. Nur bei „Shtisel“wird mir zu

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Clemens Fabry Oberrabbin­er Paul Chaim Eisenberg: „Ich halte es nicht aus, allein zu sein.“
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