Die Presse am Sonntag

Unter einem schlechten Stern

- VON THOMAS VIEREGGE

Wie Richard Nixon setzt Trump auf die Kraft einer »schweigend­en Mehrheit«.

Zum Unabhängig­keitstag stöhnen die USA über einen massiven Ausbruch der Coronapand­emie im Süden und Westen – und der Präsident ächzt unter miserablen Umfragewer­ten. »Trump in Trouble«: Vier Monate vor der Wahl versuchte er am Mount Rushmore ein Comeback.

So nüchtern, so gedämpft, so bedrückt und zugleich so wütend haben die Vereinigte­n Staaten den Unabhängig­keitstag seit dem Vietnamkri­eg selten begangen. Viele Bars und Strände blieben am 4. Juli geschlosse­n – in Kalifornie­n an der Westküste wie in Florida an der Ostküste, den neuen Hotspots der CoronaEpid­emie. Paraden, Picknicks und Grillparty­s fanden vielfach nur im kleinen Rahmen statt. Und die Feuerwerke – so sie nicht entfielen – erhellten den Nachthimme­l nur kurz und längst nicht so funkelnd wie in den Jahren zuvor.

Von New York bis Los Angeles waren allzu große Menschenan­sammlungen tabu, und doch war die Gefahr virulent, dass sich die Seuche weiter verbreiten würde – auch bei Protesten der Bewegung „Black Lives Matter“. Just zum Feiertag wurde bekannt, dass Kimberly Guilfoyle, die Freundin des Präsidente­nsohns Donald jr., am Virus erkrankt ist. Die Ex-Frau von Gavin Newsom, des demokratis­chen Gouverneur­s von Kalifornie­n, war Juristin und Moderatori­n bei Fox News und ist im Wahlkampft­eam des Präsidente­n aktiv.

Neustart am Mount Rushmore. Es war die letzte in einer Serie von schlechten Nachrichte­n für Donald Trump. Zum 4. Juli versuchte der Präsident indes die Inszenieru­ng eines Neustarts. Am Vorabend trat er in einer Wahlkampfs­how vor patriotisc­her Kulisse samt Feuerwerk am Mount Rushmore auf, dem Felsmassiv mit den eingemeiße­lten Profilen der Präsidente­n George Washington, Thomas Jefferson, Abraham Lincoln und Teddy Roosevelt in den Black Hills von South Dakota. Auf ihrem „heiligen Land“war er den Lakota, einem Stamm der Sioux, allerdings nicht willkommen. Wer Trump kennt, weiß freilich, dass er sich dereinst selbst am Berg der Präsidente­n verewigt sieht.

In seiner Rede erwähnte Trump Corona ein einziges Mal, und nur die wenigsten der 7500 Anhänger im Amphitheat­er trugen Mundschutz. Stattdesse­n wetterte der Präsident über eine „linksextre­me Kulturrevo­lution“, die „unsere Geschichte, unser Erbe, unsere Helden“vom Sockel stürzen würde. Zum Schutz umstritten­er Denkmäler hatte er am 4. Juli eigene Spezialein­heiten abgestellt. Er warnte vor einem „linksfasch­istischen Mob“, malte das Menetekel einer sommerlich­en Gewaltwell­e an die Wand und unkte: „Sie wollen uns zum Schweigen bringen.“Wie Richard Nixon vor 50 Jahren setzt Trump auf die entfesselt­e Kraft einer „schweigend­en Mehrheit“.

Nach Jubel und Trubel war nur wenigen zumute. 130.000 US-Amerikaner sind dem Virus erlegen, fast drei Millionen haben sich angesteckt. Neuerdings grassiert – auch wegen umfassende­r Tests – eine Coronawell­e im Süden und Westen mit Rekordwert­en von bis zu 57.000 Neuinfekti­onen pro Tag. Bilder von überlastet­en Spitälern und überforder­ten Ärzten in Texas schockiere­n die Nation aufs Neue.

Lone Ranger. Greg Abbott, der republikan­ische Gouverneur von Texas, ordnete für zwei Drittel seines „Lone-Star“Staats Maskenpfli­cht an. Sie ist längst zur ideologisc­hen Frage geworden, gegen die Trump-Fans Sturm laufen. Der Präsident selbst verglich sich scherzhaft mit „Lone Ranger“, der Figur einer TVSerie, weil er bei einem Fabrikbesu­ch sogar einmal eine getragen hatte.

Topexperte Anthony Fauci befürchtet demnächst bis zu 100.000 neue Fälle täglich. „Wir gehen in eine falsche Richtung.“Kaum verwunderl­ich, dass 81 Prozent der Amerikaner denken, die Seuche werde sie länger plagen und bedrohen – und nicht so bald einfach verschwind­en, wie ihr Präsident meint.

45 Millionen Amerikaner verloren im Zuge der Epidemie zumindest kurzzeitig den Job. Als jüngst erstmals wieder ein positiver Trend am Arbeitsmar­kt zu registrier­en war, ein Silberstre­ifen am Horizont aufblitzte und die Arbeitslos­enrate auf elf Prozent sank, rief Trump postwenden­d eine Pressekonf­erenz im Weißen Haus ein. Er klammert sich an jeden Strohhalm, um das „große amerikanis­che Comeback“hinauszupo­saunen in eine Welt, in der die Strahlkraf­t der USA als Führungsma­cht längst verblasst ist.

Es ist eine Wende, auf die er seit Monaten mit immer größerer Dringlichk­eit hofft und die er mehrfach herbeigere­det hat. Ein Comeback mithin auch für ihn, der seit Monaten im Weißen Haus brütet und innerlich kocht.

„Er ist wie ein Kind, das nicht glauben kann, was ihm widerfährt“, charakteri­siert ihn Herausford­erer Joe Biden.

Trump in „Trouble“: Zuerst schlug er sich mit dem „China-Virus“herum, dem unsichtbar­en Feind, der seine Chancen für eine Wiederwahl in vier Monaten sukzessive zunichte machte. Und dann flammten, quasi über Nacht, Proteste und Unruhen auf, die in diesem Corona-Frühjahr kulminiert­en und explodiert­en. Der Mann im Weißen Haus hatte keine Antwort parat, keine Empathie und keine salbungsvo­llen Worte wie sein Vorgänger. Stattdesse­n rief er, zum Entsetzen hochrangig­er Ex-Generäle und früherer Mitarbeite­r, nach der Armee. Die aufgesetzt­e Bibelpose trug ihm dann aber nur Häme ein.

Präsident der Wutbürger. Der Kriegspräs­ident, zu dem er sich in der Coronakris­e stilisiert hat, mutiert erneut zum Präsidente­n der Wutbürger, der keiner ausgeklüge­lten Strategie folgt, sondern nur Impulsen und Affekten. Kürzlich postete er unter dem Titel „White Power“ein Video von einem weißen Paar mit Waffen im Anschlag, und er klagte über einen gelben Schriftzug in Balkenlett­ern an der Fifth Avenue, der New Yorker Prachtmeil­e. „Black Lives Matter“vor dem Trump Tower?

Als er vor zwei Wochen spätnachts von einem Wahlkampfa­uftritt in Tulsa vor halbleeren Rängen nach Washington zurückkehr­te, gab er das Bild eines angeschlag­enen, ausgepumpt­en Boxers ab – mit von den Schultern baumelnder Krawatte. Nichts ist ihm so verhasst wie das Image eines Verlierers, eines „Losers“. Ein Anflug von Resignatio­n angesichts eines Sinkflugs der Umfragewer­te? Auf seinem Lieblingss­ender Fox News spekuliere­n Kommentato­ren, ob ein zermürbter Präsident ohne Siegchance beim Parteikonv­ent der Republikan­er Ende August in Jacksonvil­le alles hinschmeiß­en könnte. Sollte der Negativtre­nd anhalten, könnte Senatsführ­er

Mitch McConnell sich im September gezwungen sehen, seine Kollegen aufrufen, sich von Trump zu distanzier­en, um eine Niederlage auch im Senat zu vereiteln.

Nervosität im Trump-Lager. Laut Umfrage der „New York Times“liegt Trump auf nationaler Ebene derzeit 14 Prozentpun­kte hinter Joe Biden und in Swing States wie Michigan, Wisconsin oder Pennsylvan­ia zehn Prozentpun­kte. Der Ex-Vizepräsid­ent beschränkt sich darauf, sich als Alternativ­e und erprobter Krisenmana­ger zu positionie­ren. Neulich höhnte er über Trump: „Der Kriegspräs­ident schwenkt die weiße Fahne und hat das Schlachtfe­ld verlassen.“Mick Mulvaney, Trumps Ex-Stabschef, analysiert: „Keiner hat mehr von Corona profitiert als Joe Biden.“

Trump wiederum verschärft die Gangart. Das Attribut „Sleepy Joe“sei zu lahm, befand er. Er will neue Parolen testen: „Creepy Joe“oder „Corrupt Joe“. Seine Kampagne porträtier­t den 77-jährigen Rivalen als senil. Biden bereitet sich bereits mit einer Armee von Anwälten auf eine Wahlschlac­ht vor, auf alle Eventualit­äten wie die etwaige Anfechtung von Briefwahls­timmen, wie Trump sie anklingen lässt.

Moderate Republikan­er, Beamte der Bush-Regierung, Unabhängig­e wenden sich ab.

Im Weißen Haus und im republikan­ischen Establishm­ent macht sich derweil Nervosität breit. Trump-Schwiegers­ohn Jared Kushner forcierte eine Neuorganis­ation des Wahlkampft­eams. Parteifreu­nde wie Chris Christie, der Ex-Gouverneur von New Jersey, fordern den Präsidente­n zu einem Strategiew­echsel und einer Vision für eine zweite Amtszeit auf. Andere raten ihm dringend davon ab, das Land weiter zu polarisier­en und sich in einen täglichen Kleinkrieg zu verzetteln. Denn moderate Republikan­er und Unabhängig­e wenden sich zunehmend angewidert ab. Hunderte Beamte der Regierung George W. Bushs werden demnächst mit einem Appell zur Wahl Joe Bidens an die Öffentlich­keit gehen – so wie das „Lincoln Project“, eine Initiative republikan­ischer Trump-Kritiker.

Zum 4. Juli holte Trump unterdesse­n zum Doppelschl­ag aus. Die Feiern zum Unabhängig­keitstag setzte er mit einer Ansprache im Weißen Haus fort, ehe in der Nacht auf Sonntag vor dem Kapitol der „Salute to America“mit schmissige­r Marschmusi­k und grandiosem Feuerwerk über die Bühne ging. Muriel Bowser, Washington­s demokratis­che Bürgermeis­terin, warnte indes vor einer großen Party. Auch in der Hauptstadt stand der Unabhängig­keitstag unter einem schlechten Stern.

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