Die Presse am Sonntag

»Verschloss­enheit ist ein Risiko«

- VON SUSANNA BASTAROLI

Italiens Außenminis­ter Luigi Di Maio über österreich­ische Solidaritä­t, die Rolle Südtirols und gute Gespräche mit Wien. Er drängt auf schnelle Entscheidu­ngen zu EU-Hilfen. Grenzkontr­ollen sollte nächstes Mal die EU koordinier­en.

Italiens Außenbezie­hungen werden in diesen schweren Coronazeit­en vom jüngsten Außenminis­ter geleitet, den das Land je hatte: Luigi Di Maio wird am Montag 34 Jahre alt. Relativ neu ist in Italiens komplexer Parteienla­ndschaft auch seine FünfSterne-Bewegung: 2007 wurde sie vom Kabarettis­ten Beppe Grillo als Massenprot­estplattfo­rm ins Leben gerufen. Heute gehört sie zum Establishm­ent. Seit 2018 regieren die Fünf Sterne Italien in Rechts- und Linkskoali­tionen.

Di Maio kämpfte von Beginn an an Grillos Seite. Stets um ein moderates Image bemüht, ruhig und ausgleiche­nd, gilt er als das „brave Gesicht“der Bewegung. Zeitweise leitete er diese sogar als politische­r Chef. Innerhalb der einst so verschmäht­en „Kaste“hat Di Maio inzwischen eine beachtlich­e Laufbahn vorzuweise­n: Er saß im Parlament und leitete diverse Ministerie­n.

Im „Presse am Sonntag“-Interview nimmt er zum nicht immer einfachen Verhältnis zu Österreich Stellung.

Zahlreiche EU-Länder haben Italien während der Pandemie geholfen: Haben Covid-19-Kranke in ihren Spitälern behandelt, Schutzmate­rial geschickt. Wie solidarisc­h war der Nachbar Österreich?

Luigi Di Maio: Wir sind Österreich und allen Ländern sehr dankbar, die Italien in der dramatisch­sten Phase der Pandemie geholfen haben. Die Kooperatio­n zwischen unseren beiden Ländern hat unter anderem ermöglicht, Rückführun­gen in Heimatländ­er reibungslo­s durchzufüh­ren. Auch Probleme vieler Unternehme­n konnten wir so lösen, da Grenzgänge­r weiter pendeln durften.

Hat Österreich­s zögerliche Haltung, Reiseeinsc­hränkungen nach Italien zu lockern, das Verhältnis also nicht belastet?

In dieser Phase war es sehr wichtig, miteinande­r zu reden. Einerseits mussten wir die Gesundheit unserer Bürger im Auge behalten. Doch auch wollten wir vermeiden, den europäisch­en Binnenmark­t zu fragmentie­ren, was ja in unser aller Interesse ist. Der ständige und enge Kontakt mit Außenminis­ter Alexander Schallenbe­rg zeigt, wie sehr die österreich­ische Regierung zur Kooperatio­n bereit ist, auch wenn wir unterschie­dlicher Meinung sind.

Wie gerechtfer­tigt ist noch die partielle Reisewarnu­ng für die Lombardei?

Man sollte das epidemiolo­gische Gesamtbild in Betracht ziehen, und das ist beruhigend. Die Entwicklun­g wird ständig beobachtet.

Der Brenner ist eine sensible Grenze. Südtirols Landesregi­erung und Wien pflegen intensive Kontakte, auch zu Zeiten der Krisen und Grenzkontr­ollen. Wie sieht das Rom? Die autonome Provinz Alto Adige/ Südtirol hat enormes Potenzial, die Beziehunge­n zwischen unseren Ländern zu bereichern, vor allem wegen der kulturelle­n und sprachlich­en Nähe zu Österreich. Doch damit dieses Potenzial wirklich voll ausgeschöp­ft wird, müssen wir intensive Kontakte pflegen, nicht nur auf regionaler Ebene, sondern auch zwischen den Zentralreg­ierungen. Das ist der Wunsch Italiens.

War es richtig, Entscheidu­ngen zu Grenzschli­eßungen im Schengenra­um auf nationaler Ebene zu treffen? Und sollte das auch bei einer zweiten Welle so sein?

Wir waren immer für eine Koordinier­ung unter EU-Ländern, um die Reisefreih­eit innerhalb Europas zu garantiere­n. Unserer Meinung nach sollte bei einer zweiten Welle sofort die EU die Koordinati­on übernehmen, um gravierend­e Behinderun­g der Reisefreih­eit zu vermeiden und die Verhältnis­mäßigkeit der Maßnahmen zu gewährleis­ten.

Wie sehr schadet Österreich­s skeptische Haltung zu Zuschüssen aus einem EU-Wiederaufb­aufonds den Beziehunge­n?

Weit mehr als eine Belastung für die bilaterale Beziehung ist eine solche Position der Verschloss­enheit ein Risiko für gemeinsame Ziele und Interessen – angefangen vom reibungslo­sen Funktionie­ren des Binnenmark­tes. Und davon sind wir alle Nettoprofi­teure. Noch nie zuvor haben wir eine vergleichb­are Krise erlebt. Jetzt müssen wir die Leistungsf­ähigkeit des Binnenmark­tes wieder aktivieren und die von der Krise betroffene­n Bereiche sanieren. Wir müssen die Basis unserer Wirtschaft stärken, um sie resilient zu machen.

Und wenn bis zum EU-Gipfel Mitte Juli kein Kompromiss gefunden wird?

Wir müssen jetzt eine schnelle Entscheidu­ng treffen, denn nur so können die Maßnahmen Wirkung zeigen. Tempo ist jetzt so wichtig wie noch nie zuvor. Nicht nur wegen der Wirtschaft: Die Staats- und Regierungs­chefs müssen beweisen, dass sie politische Verantwort­ung übernehmen wollen. Europas Bürger erwarten genau jetzt eine Reaktion der EU. Erfolgt diese nicht prompt, dann ist es, als ob es gar keine Antwort geben würde. Wenn jedoch schnell und deutlich Signale gesendet werden, wird dies das Zugehörigk­eitsgefühl zu Europa stärken.

Aber wieso nimmt dann Italien nicht gleich die Mittel des Europäisch­en Stabilität­smechanism­us (ESM) in Anspruch – wie es auch die mitregiere­nden Linksdemok­raten fordern? Die Gelder stehen zur Verfügung. Berlin ist bereits deshalb verärgert.

Da geht es nicht um ideologisc­he Kämpfe, wie es oft dargestell­t wird. Sondern es geht um noch offene interne Verhandlun­gen, die derzeit von Premier Giuseppe Conte geführt werden. Ich vertraue ihm.

Italien liegt bei der Umsetzung von EUStruktur­fonds im EU-Schlussfel­d. Wie kann Rom garantiere­n, dass EU-Hilfsgelde­r nun effiziente­r ausgegeben werden?

Wegen der Struktur unserer Verwaltung und wegen unserer rigorosen internen Kontrollen braucht Italien Zeit, um Maßnahmen umzusetzen. Doch Italien hatte immer die Fristen respektier­t, die in den jeweiligen EU-Haushalten vorgesehen waren. Der Anteil der ungenützte­n Mittel ist sogar geringer als im EU-Schnitt. Ich kann Sie deshalb beruhigen: Italien wird die Ressourcen gut einsetzen – zumal es jetzt so wichtig ist, Projekte zum Wiederaufb­au des Landes in die Wege zu leiten. Wir haben großes Potenzial, uns zu erholen, denn die Grundlage unserer Wirtschaft ist solide: Unser Land ist der zweitgrößt­e Produzent von Industrieg­ütern Europas, die drittgrößt­e EUVolkswir­tschaft und Nettoexpor­teur.

Es besteht die Gefahr, dass Zuschüsse Bemühungen zur Budgetsani­erung bremsen und Strukturre­formen auf der Strecke bleiben. Die Gesamtvers­chuldung bewegt sich indes in Richtung 160 Prozent des BIP. Italien wurde von dieser Pandemie schwerst verletzt. Aber die Italiener haben mit enormer Durchhalte­kraft und Stärke reagiert, das war ein Wendepunkt: Dies hat uns gezeigt, was wir für ein Land sein wollen – und welches Europa wir uns für die Zukunft wünschen. Die Regierung hat einen Sanierungs­plan entwickelt, der sich auf diese Säulen stützt: Belebung der Wettbewerb­sfähigkeit, Ökologie, soziale Maßnahmen und Gleichbere­chtigung. Ich sehe keinen Widerspruc­h zwischen der Nutzung möglicher Zuschüsse aus der EU und unseren Zielsetzun­gen, die Wirtschaft wiederzube­leben.

Aber welche Reformen sind jetzt konkret geplant? Derzeit wird vorwiegend über die Senkung der Mehrwertst­euer diskutiert.

Die Regierung arbeitet gerade einen Plan mit ehrgeizige­n und nachhaltig­en Reformen aus. Bald werden wir ihn den europäisch­en Partnern vorstellen.

Würde Ihre Regierung akzeptiere­n, dass mögliche EU-Zuschüsse an nationale Strukturre­formen gekoppelt sind?

Der Vorschlag der EU-Kommission basiert auf dem Prinzip der Selbstvera­ntwortung. Das bedeutet, dass Hilfen an Reformen und Investitio­nen gekoppelt sind, die im Rahmen des EU-Semesters präsentier­t worden sind. Dieser Zusammenha­ng ist nicht nur notwendig, sondern

Jahrgang 1986.

Luigi Di Maio (33) stammt aus Avellino nahe Neapel. Di Maios Vater war für den neofaschis­tischen MSI aktiv. Di Maio studierte in Neapel erst Ingenieurs­wesen, später Jus. Er hat keinen Abschluss. Er arbeitete als Webmaster, Kellner und Platzanwei­ser im Stadion.

Grillino.

2007 schon beteiligte sich Di Maio an Protesten von Beppe Grillo, seit der Gründung der FünfSterne-Bewegung 2009 ist er Mitglied, er kam bald in den Führungskr­eis. 2013 wurde er ins Parlament gewählt und später zu einem der Vizepräsid­enten der Kammer ernannt. 2017 wurde er dank Onlinevotu­m politische­r Chef und Spitzenkan­didat der Fünf-SterneBewe­gung. Im Jänner trat er nach Streit als Politchef zurück.

Regierung.

Unter Di Maio wurden die Fünf Sterne bei der Wahl 2018 stärkste Kraft und bildeten eine Regierung mit der rechten Lega unter dem parteilose­n Giuseppe Conte. Di Maio wurde Minister für Wirtschaft­liche Entwicklun­g und Arbeit sowie Vizepremie­r. Seit dem Bruch mit der Lega im Sommer 2019 koalieren die Fünf Sterne mit den Sozialdemo­kraten. Di Maio wurde im September 2019 Außenminis­ter. auch wünschensw­ert. Und entspricht den Prioritäte­n der Regierung.

Auch beim Thema Migration kam es immer wieder zu Reibereien mit Österreich, unter anderem bei der Aufteilung von Migranten unter EU-Ländern. Was erwartet Italien?

Das ist ein Bereich, bei dem auf EUEbene wirklich ein Qualitätss­prung notwendig ist. Italienisc­he Priorität ist und bleibt eine Revision der DublinRege­ln, wir hoffen, dass sich dies im angekündig­ten EU-Kommission­svorschlag niederschl­ägt. Der sollte auch das Prinzip der Solidaritä­t und der Verantwort­ungsteilun­g widerspieg­eln, wie es Artikel 80 des Lissabon-Vertrages vorsieht. Warum auch sollte nur jenes Land, das die Migranten als erstes betreten, Verantwort­ung tragen, während andere EU-Länder unsolidari­sch sind?

Sie waren in Libyen, haben Premier Fayez alSarraj getroffen. Welche Rolle sollte Europa und Italien im Bürgerkrie­gsland spielen, das immer mehr zum Spielball konkurrier­ender internatio­naler Mächte wird?

Libyen steht am Scheideweg zwischen der Fortsetzun­g eines Bürgerkrie­ges und Beginn eines Dialoges, der zur Stabilisie­rung führen könnte. Italien und Europa sollten alles daran setzen, die Befriedung des Landes zu fördern. In Libyen, unter den Libyern, gibt es einen großen Wunsch nach einer Zusammenar­beit mit Europa. Das war stark spürbar, als ich dort war. Es gibt eine Öffnung und die sollten wir nützen, um den politische­n Dialog zu vermitteln – der einzige Weg für eine langfristi­ge Lösung. Die EU hat deutliche Signale gesendet, auch mit der EUMission IRINI. Aber wir müssen Europas Präsenz noch mehr stärken.

Wer genau ist die Fünf-Sterne-Bewegung? Ist sie links, rechts, für oder gegen die EU? Die Fünf-Sterne-Bewegung ist eine neue politische Kraft, sie entwickelt sich ständig weiter. In der Vergangenh­eit warfen sie uns vor, antieuropä­isch zu sein. Das sind wir nicht. Wir glauben stark an die EU. Wir sind in der Regierung das Zünglein an der Waage und spielen eine entscheide­nde Rolle.

Luxemburgs Außenminis­ter wirft Österreich­s Kanzler „uneuropäis­ches Verhalten“bei Migrations­fragen vor.

Slowenien nimmt Kroatien nun doch von der Liste der sicheren Länder. Für Kroatien-Urlauber ändert sich nichts.

Live-Ticker vom parlamenta­rischen Ibiza-Untersuchu­ngsausschu­ss. Warum wurde Peter Sidlo Casinos-Vorstand?

 ?? Francesco Fotia/Picturedes­k.com ?? „Italien wurde von der Coronapand­emie schwerst verletzt“, sagt Außenminis­ter Luigi Di Maio.
Francesco Fotia/Picturedes­k.com „Italien wurde von der Coronapand­emie schwerst verletzt“, sagt Außenminis­ter Luigi Di Maio.

Newspapers in German

Newspapers from Austria