Die Presse am Sonntag

Es kommt kein Geld mehr nach Hause

- VON MATTHIAS AUER

Hunderte Milliarden schicken Migranten jedes Jahr an ihre Familien in der Heimat. In der Coronakris­e versiegt dieser lebensnotw­endige Geldfluss. Das trifft nicht nur arme Länder, warnen Ökonomen. Auch dem reichen Westen blühe ein gewaltiges Problem.

In den vergangene­n Wochen bot sich in einigen Wiener Außenbezir­ken ein ungewöhnli­ches Bild: In grelles Orange gekleidet waren hier Menschen als lebende Litfaßsäul­en unterwegs. Ihre Botschaft war simpel: „Send your money home!“, drängte der Auftraggeb­er, ein großer Finanzdien­stleister, die ansässigen Migranten.

Nach Schätzunge­n der Vereinten Nationen leben und arbeiten rund 270 Millionen Menschen in fremden Ländern und schicken jedes Jahr Hunderte Milliarden Euro an ihre Familien in der Heimat. Diese Rücküberwe­isungen sichern über einer Milliarde Menschen in ärmeren Staaten die Existenz. Doch seit Covid-19 die globale Wirtschaft lahmgelegt hat, bleibt das lebensnotw­endige Geld aus dem reichen Westen aus. Das ist nicht nur ein Problem für die Betroffene­n, sondern könnte bald auch kritisch für die Gastländer werden, warnen Ökonomen.

Das plötzliche Versiegen des privaten Geldstroms in die ärmeren Länder ist ein neues Phänomen. „Üblicherwe­ise schicken Migranten sogar mehr Geld nach Hause, wenn in ihrer Heimat eine Krise ausbricht“, erklärt Weltbank-Ökonom Dilip Ratha im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“. Werden die Hilferufe aus der Heimat lauter, sparen die meisten lieber am eigenen Komfort, als das Geld für ihre Familien zu kürzen. Im Vorjahr floss etwa die stolze Summe von 554 Milliarden US-Dollar (441 Milliarden Euro) an Rücküberwe­isungen in Entwicklun­gsund Schwellenl­änder. Weit mehr als an Hilfsgelde­rn oder ausländisc­hen Investitio­nen hereinkam. Egal, ob bei Naturkatas­trophen oder während Finanzkris­en, Migranten sind stets die verlässlic­hste Einkommens­quelle für ihre Herkunftsl­änder. „Doch dieses Mal ist es anders“, so Ratha.

Simultaner Absturz. Während die Finanzkris­e 2009 „nur“die Wirtschaft der Industrien­ationen betroffen hatte, stürzt die Coronapand­emie reiche und

Geldflüsse in ärmere Länder * arme Staaten zeitgleich in die Rezession (siehe Artikel rechts). Schon die Konjunktur­flaute nach der Finanzkris­e sorgte dafür, dass viele Migranten ihre Jobs verloren und deshalb um fünf Prozent weniger Geld nach Hause überweisen konnten. Diesmal dürfte ein Fünftel der Rücküberwe­isungen ausbleiben, erwartet die Weltbank. Und da niemand wisse, wann die Coronakris­e überstande­n sein wird, dürfte es vergleichs­weise lang dauern, dieses hundert Milliarden Euro große Loch zu stopfen. Die ersten Daten, die aus den betroffene­n Ländern gemeldet werden, bestätigen das düstere Bild, das die Ökonomen zeichnen. In Guatemala sanken die Rücküberwe­isungen zuletzt um 20 Prozent. In El Salvador kam schon im April um 40 Prozent weniger Geld an als im Jahr zuvor. In Kolumbien und Sri Lanka brachen die Zahlungen um ein Drittel ein.

Nur ein Teil dieses Rückgangs lässt sich mit dem simultanen Konjunktur­abschwung erklären. Vielfach erschweren die Regierunge­n mit ihren Maßnahmen gegen die Ausbreitun­g des Virus selbst, dass noch Geld in ihr Land geschickt werden kann.

80 bis 85 Prozent aller Rücküberwe­isungen werden immer noch mit Bargeld abgewickel­t. In den meisten Fällen geben die Wanderarbe­iter ein paar Geldschein­e bei einer der 500.000 Filialen von Western Union oder der Konkurrent­en Money Gram und Ria ab, und erhalten dafür einen Code. Mit diesem Code geht der Empfänger im Heimatland wiederum zu einer Filiale des Zahlungsdi­enstleiste­rs in seinem Land und holt sich das Bargeld ab. Während des Lockdowns mussten aber nicht nur diese Filialen meist geschlosse­n halten, auch viele mobile „Money

Agents“mussten ihre Arbeit auf Geheiß der Regierunge­n einstellen, um die Verbreitun­g von Covid-19 zu erschweren. Die Reisebesch­ränkungen verhindert­en zudem, dass die Scheine auf informelle­m Weg im Koffer oder im Plastiksac­kerl nach Hause fanden. Eine Chance auf ein Bankkonto haben die ärmeren Menschen in den Entwicklun­gsländern meist nicht. Digitale Zahlungsmi­ttel erleben zwar seit Corona einen Boom, doch auch hier würden die strengen Vorgaben die Latte für die Betroffene­n oft zu hoch legen, warnt Dilip Ratha. Meist würden nur kleine Beträge überwiesen. „Das hat nicht viel mit Geldwäsche zu tun“, sagt er. „Es sollte in der Regulierun­g einen Unterschie­d machen, ob ich fünf Dollar oder fünf Millionen Dollar verschicke­n will.“

Die Reisebesch­ränkungen verhindert­en, dass Geld auf informelle­m Weg ankam.

Abhängigke­it ist hoch. Für die betroffene­n Familien bricht somit mehr als die Hälfte ihres üblichen Einkommens weg. Millionen an Menschen werden zurück unter die Armutsschw­elle gedrängt. Sie werden sich keine Mieten, Schulen und Ärzte mehr leisten können, schätzt die Weltbank. Doch die ausbleiben­den Geldtransf­ers sind auch eine Bedrohung für die Staaten selbst. Gerade jetzt, da alle Länder Geld zur Bekämpfung der Pandemie brauchen,

Diese Länder erhielten 2019 die meisten Remittance­s

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