Hinter die Schwelle zurückgeworfen
Zu Beginn betraf die Coronakrise fast nur Industrieländer. Das hat sich geändert. Gesundheitlich und wirtschaftlich.
Anfangs war Covid-19 in Brasilien lediglich eine Krankheit der Reichen. Die ersten Fälle gab es beispielsweise in Rio de Janeiro nicht in den Favelas, wo Hunderttausende unter engsten Bedingungen und mit schlechten Hygienevoraussetzungen zusammenleben, sondern in den Villenvierteln der Wohlhabenden. Der Grund dafür ist relativ leicht erklärbar: Nur die Reichen sind mobil und können sich etwa Fernreisen nach Europa leisten. Und von dort wurde das Coronavirus wahrscheinlich auch in das größte Land Südamerikas eingeschleppt.
Doch das hat sich schon längst geändert. Seit einigen Wochen grassiert das Coronavirus und die von ihm ausgelöste Lungenerkrankung nicht nur in den Elendsvierteln der Großstädte wie Rio, Sa˜o Paulo oder Belo Horizonte, sondern auch in den kleineren Städten und Dörfern am Land. Und selbst die entlegensten Gebiete der indigenen Ureinwohner im Amazonasgebiet mussten schon Tausende Infizierte und Tote beklagen. Ähnlich die Entwicklung in vielen anderen Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens. Zuletzt entwickelt sich vor allem Indien, das nach China zweitbevölkerungsreichste Land der Welt, zunehmend zu einem neuen Coronahotspot.
Kein Lockdown. Für die Entwicklungsund Schwellenländer und ihre oft nur rudimentär ausgebauten Gesundheitssysteme wird die Coronakrise damit genauso zu einem gravierenden Problem wie sie es in den Industriestaaten bereits seit Anfang März ist. Anders als in den reichen Ländern des Nordens kommt es vielerorts zwar nicht zu einem generellen Lockdown.
Der ist einerseits nicht möglich, weil das Überleben vieler Menschen vom täglichen Handel auf der Straße oder Handwerksarbeiten abhängt. Andererseits stellt sich gerade in Ländern
Milliarden Dollar
wurden allein im März aus Schwellenländern abgezogen. Eine Entwicklung, die im April und Mai weiterging.
Prozent
soll die Wirtschaft Mexikos laut der Prognose des IWF heuer schrumpfen. Das wäre deutlich mehr als in den meisten Industrieländern. wie Brasilien oder Mexiko auch die politische Führung gegen verschärfte Quarantäneregeln. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro bezeichnete Covid-19 wiederholt als „kleine Grippe“.
Die Volkswirtschaften dieser Länder werden von der Coronakrise dennoch so heftig getroffen wie schon lange nicht mehr. Anders als noch in der Finanzkrise von 2008/09 werden heuer auch viele Schwellenländer in die Rezession rutschen. Der IWF prognostiziert etwa für Südafrika ein Minus von 8,0, für Brasilien eines von 9,1 und für Mexiko sogar ein Minus von 10,5 Prozent. Der Einbruch dürfte somit vielerorts sogar stärker ausfallen als in den meisten Industriestaaten.
Zwei Gründe sind für diese Entwicklung verantwortlich. Der erste ist der Preis- und Nachfragerückgang an den Rohstoffmärkten. Zwar sorgten auch frühere Krisen regelmäßig dafür, dass die Preise einbrachen. In der Regel blieb aber die Nachfrage deutlich stabiler, weil etwa der private Konsum der Abnehmer in den Industrieländern weitgehend erhalten blieb. Das ist diesmal anders. Aufgrund des mehrwöchigen Lockdowns gingen in den meisten westlichen Ländern neben den Exporten und Investitionen auch die Konsumausgaben zurück. Verschärft wurde die Situation bei dem für viele Länder als Einnahmequelle wichtigen Erdöl durch den Preiskrieg zwischen Russland und Saudiarabien.
Der zweite Grund ist ein Kapitalabfluss in Rekordhöhe, der mit Ausbruch der Pandemie eingesetzt hat. So haben internationale Investoren allein im März 83 Mrd. Euro aus den Schwellenländern abgezogen. Eine Entwicklung, die sich im April und Mai fortsetzte. Da somit auch die Währungen abwerteten, wurden die meist in Dollar notierten Schulden höher. Eine gefährliche Mischung, die noch zu einer großen Schwellenländerkrise führen könnte, so Experten.