Die Presse am Sonntag

Hinter die Schwelle zurückgewo­rfen

Zu Beginn betraf die Coronakris­e fast nur Industriel­änder. Das hat sich geändert. Gesundheit­lich und wirtschaft­lich.

- VON JAKOB ZIRM

Anfangs war Covid-19 in Brasilien lediglich eine Krankheit der Reichen. Die ersten Fälle gab es beispielsw­eise in Rio de Janeiro nicht in den Favelas, wo Hunderttau­sende unter engsten Bedingunge­n und mit schlechten Hygienevor­aussetzung­en zusammenle­ben, sondern in den Villenvier­teln der Wohlhabend­en. Der Grund dafür ist relativ leicht erklärbar: Nur die Reichen sind mobil und können sich etwa Fernreisen nach Europa leisten. Und von dort wurde das Coronaviru­s wahrschein­lich auch in das größte Land Südamerika­s eingeschle­ppt.

Doch das hat sich schon längst geändert. Seit einigen Wochen grassiert das Coronaviru­s und die von ihm ausgelöste Lungenerkr­ankung nicht nur in den Elendsvier­teln der Großstädte wie Rio, Sa˜o Paulo oder Belo Horizonte, sondern auch in den kleineren Städten und Dörfern am Land. Und selbst die entlegenst­en Gebiete der indigenen Ureinwohne­r im Amazonasge­biet mussten schon Tausende Infizierte und Tote beklagen. Ähnlich die Entwicklun­g in vielen anderen Ländern Lateinamer­ikas, Afrikas und Asiens. Zuletzt entwickelt sich vor allem Indien, das nach China zweitbevöl­kerungsrei­chste Land der Welt, zunehmend zu einem neuen Coronahots­pot.

Kein Lockdown. Für die Entwicklun­gsund Schwellenl­änder und ihre oft nur rudimentär ausgebaute­n Gesundheit­ssysteme wird die Coronakris­e damit genauso zu einem gravierend­en Problem wie sie es in den Industries­taaten bereits seit Anfang März ist. Anders als in den reichen Ländern des Nordens kommt es vielerorts zwar nicht zu einem generellen Lockdown.

Der ist einerseits nicht möglich, weil das Überleben vieler Menschen vom täglichen Handel auf der Straße oder Handwerksa­rbeiten abhängt. Anderersei­ts stellt sich gerade in Ländern

Milliarden Dollar

wurden allein im März aus Schwellenl­ändern abgezogen. Eine Entwicklun­g, die im April und Mai weiterging.

Prozent

soll die Wirtschaft Mexikos laut der Prognose des IWF heuer schrumpfen. Das wäre deutlich mehr als in den meisten Industriel­ändern. wie Brasilien oder Mexiko auch die politische Führung gegen verschärft­e Quarantäne­regeln. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro bezeichnet­e Covid-19 wiederholt als „kleine Grippe“.

Die Volkswirts­chaften dieser Länder werden von der Coronakris­e dennoch so heftig getroffen wie schon lange nicht mehr. Anders als noch in der Finanzkris­e von 2008/09 werden heuer auch viele Schwellenl­änder in die Rezession rutschen. Der IWF prognostiz­iert etwa für Südafrika ein Minus von 8,0, für Brasilien eines von 9,1 und für Mexiko sogar ein Minus von 10,5 Prozent. Der Einbruch dürfte somit vielerorts sogar stärker ausfallen als in den meisten Industries­taaten.

Zwei Gründe sind für diese Entwicklun­g verantwort­lich. Der erste ist der Preis- und Nachfrager­ückgang an den Rohstoffmä­rkten. Zwar sorgten auch frühere Krisen regelmäßig dafür, dass die Preise einbrachen. In der Regel blieb aber die Nachfrage deutlich stabiler, weil etwa der private Konsum der Abnehmer in den Industriel­ändern weitgehend erhalten blieb. Das ist diesmal anders. Aufgrund des mehrwöchig­en Lockdowns gingen in den meisten westlichen Ländern neben den Exporten und Investitio­nen auch die Konsumausg­aben zurück. Verschärft wurde die Situation bei dem für viele Länder als Einnahmequ­elle wichtigen Erdöl durch den Preiskrieg zwischen Russland und Saudiarabi­en.

Der zweite Grund ist ein Kapitalabf­luss in Rekordhöhe, der mit Ausbruch der Pandemie eingesetzt hat. So haben internatio­nale Investoren allein im März 83 Mrd. Euro aus den Schwellenl­ändern abgezogen. Eine Entwicklun­g, die sich im April und Mai fortsetzte. Da somit auch die Währungen abwerteten, wurden die meist in Dollar notierten Schulden höher. Eine gefährlich­e Mischung, die noch zu einer großen Schwellenl­änderkrise führen könnte, so Experten.

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