Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VON MARTIN KUGLER

Aus Untersuchu­ngen unseres Abwassers lassen sich erstaunlic­he Schlüsse ziehen – nicht nur über die Verbreitun­g des Coronaviru­s.

Die meisten Zeitgenoss­en wollen mit Abwasser nichts zu tun haben. Verständli­ch. Für manche ist es freilich eine Schatzgrub­e. Etwa für Epidemiolo­gen. Derzeit erlebt die „wastewater-based epidemiolo­gy“(WBA) einen wahren Boom, bei der im Abwasser nach Biomarkern gesucht wird, die Einblicke in unser Leben erlauben. Bekannt wurde die Methode im Zuge der Coronapand­emie – denn erkrankte Menschen scheiden Teile des Virus im Stuhl aus, und diese Moleküle lassen sich im Abwasser nachweisen. Forscher der Medizin Uni Innsbruck, der TU Wien und der Ages arbeiten zurzeit an einer Methode für ein Frühwarnsy­stem für eine mögliche zweite Coronawell­e: Ist ein Coronatest im Abwasser eines bestimmten Areals positiv, können die Menschen dort gezielt getestet werden.

Dieser Tage gab es einigen Wirbel um eine Studie von Forschern in Barcelona, die eingefrore­ne Abwasserpr­oben analysiert­en und bei einer Probe aus dem März 2019 ein positives Sars-CoV-2-Resultat erhielten. In der Fachwelt wird dieses Ergebnis gerade heiß diskutiert – möglicherw­eise muss die Vorgeschic­hte der Pandemie, die nach jetzigem Wissenssta­nd im November 2019 begonnen hat, umgeschrie­ben werden.

Aber auch in vielen anderen Bereichen läuft die Forschung auf Hochtouren. Bereits routinemäß­ig werden z. B. Bestandtei­le und Abbauprodu­kte verbotener Substanzen im Abwasser analysiert, um etwas über Veränderun­gen des Drogenkons­ums oder die Wirksamkei­t von Gesetzesän­derungen zu erfahren. Man kann auch nachweisen, wenn etwa ein Bodybuilde­r-Wettbewerb in einer Stadt stattfinde­t.

Immer häufiger wird überdies unser Alltagsleb­en unter die Lupe genommen. So wurde etwa im Abwasser eines Uni-Campus in den USA gezeigt, dass Studenten unter der Woche mehr Kaffee und am Wochenende mehr Alkohol und Nikotin konsumiere­n. Australisc­he Forscher haben jüngst Unterschie­de im Verzehr von Vitaminen und Ballaststo­ffen in verschiede­nen Stadtviert­eln gefunden; gescheiter­t sind sie indes daran, den Fleischkon­sum anhand von Abwasserpr­oben zu quantifizi­eren.

Angesichts solcher Forschungs­arbeiten könnte man sich fragen, ob hier ein „Big Brother“im Kanal lauert? Das hängt v. a. davon ab, an welchen Stellen Proben gezogen werden: in Kläranlage­n, wo das Abwasser Tausender Menschen zusammenge­flossen ist, sind Studien zur Erfassung von Trends in der Gesellscha­ft wohl unproblema­tisch. Geschieht dies hingegen im Abwasserka­nal eines einzelnen Hauses, sollten alle Alarmglock­en schrillen.

Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Wissenscha­ftskommuni­kator am AIT.

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