Die Presse am Sonntag

In der Tiefe der Erinnerung

- VON JÜRGEN LANGENBACH

An Mäusen lässt sich das Gedächtnis nach Belieben manipulier­en, aber wie es aufgebaut wird, harrt weithin der Klärung.

An Mäusen kann man Erinnerung ausradiere­n und wieder auferstehe­n lassen.

Der Schrecken der alternden Gesellscha­ften ist der Verlust des Gedächtnis­ses, der mit dem Namen Alzheimer assoziiert wird. Aber es gibt auch ein gegenläufi­ges Grauen, das des Nicht-Vergessen-Könnens: Jorge Luis Borges hat sein Extrem in einer Geschichte imaginiert – „Das unerbittli­che Gedächtnis“–, deren Protagonis­t ständig jedes Detail seines Lebens vor Augen hat, selbst das Wetters an einem beliebigen Tag, nein: zu jeder Sekunde dieses Tags: „Mein Leben ist ein Abfalleime­r.“

Könnte man solchen Müll entsorgen, könnte man, realitätsn­äher, Menschen von Traumata befreien, deren Auftauchen aus dem Dunkel der Vergangenh­eit sie ihr Leben lang verfolgt? Könnte man umgekehrt Verschütte­tes freilegen und dem Vergessen selbst des eigenen Namens Erinnerung­sspuren entgegense­tzen, um die die Persönlich­keit sich wieder ranken kann? Bei Versuchsmä­usen kann man es, in nachgerade spukhafter Weise, man kann sie sogar zur Erinnerung an Erlebnisse bringen, die sie nie gemacht haben, etwa an die eines angenehmen Dufts, den nach Orangen. Der kam aus einer Wand der Versuchska­mmer, die gegenüberl­iegende strömte einen herben Geruch aus.

Nach kurzem Schnüffeln entschiede­n die Mäuse sich für den Orangenduf­t, obwohl sie ihn nie zuvor in der Nase gehabt hatten, Kontrollmä­use taten das nicht. Dafür hatte Sheena Josselyn vom Hospital for Sick Children in Toronto im abschließe­nden einer Serie von Experiment­en gesorgt, in dem sie Schritt für Schritt alle Finessen der Molekularb­iologie eingesetzt hatte, um den Details des Erinnerns auf die Spur zu kommen. Zunächst, 2009, ging es um das Ausradiere­n von Erinnerung­en, von bösen, denen an Elektrosch­ocks aus dem Käfigboden, die sich kurz nach dem Erklingen eines bestimmten Tons einstellte­n, sie ließen die Mäuse vor Furcht erstarren.

Dafür hatte klassische­s Pawlowsche­s Konditioni­eren gesorgt. Aber zuvor hatten Josselyn und ihr Mann Paul Frankland molekular in die Gehirne eingegriff­en, in die Region, in der Emotionen

wie Furcht verarbeite­t werden, die Amygdala. In der wurden einige Zellen gentechnis­ch mit CREB ausgestatt­et, das ist ein Transkript­ionsfaktor, der Hirnzellen empfindsam­er macht bzw. leichter erregbar. Sie reagierten auf den Ton, sie ließen die Mäuse erstarren vor dem Kommenden.

Aber ihnen war nicht nur CREB eingebaut, sondern noch etwas: ein Rezeptor für ein tödliches Zellgift, das der Diphterie-Bakterien. Wurde das gespritzt, ging zusammen mit den Zellen die Erinnerung­sspur verloren: Die Mäuse hatten keine Furcht mehr vor dem Ton bzw. seinen Folgen (Science 323, S. 1492). Kurz darauf unternahm Susuma Tonegawa am MIT ein komplement­äres Experiment, diesmal konnten für Erinnerung zuständige Gehirnzell­en mit einem Antibiotik­um im Futter still gestellt werden.

Optogeneti­k. Im ersten Schritt des Experiment­s gab es das noch nicht, die Mäuse erstarrten vor Furcht. Dann wurde das Antibiotik­um beigemisch­t, die Mäuse verloren die Furcht. Aber auch sie hatten noch etwas eingebaut, aus dem Baukasten der Optogeneti­k, deren Instrument­e es erlauben, Gene mit Licht zu aktivieren (das über Glasfaser in Gewebe gebracht wird). Damit konnten die vom Antibiotik­um inaktivier­ten Zellen – bzw. ihre Ionenkanäl­e – wieder in Schwung gebracht werden: Die ausgeschal­tete Erinnerung war wieder da (Nature 484, S. 381).

„Aber wenn wir das Gedächtnis wirklich verstehen wollen, sollten wir in der Lage sein, das Gehirn mit einer Erinnerung an etwas auszustatt­en, das nie geschehen ist“, wollte Josselyn den Schlusssch­ritt setzen (The Scientist Mai). Der gelang ihr mit zweifacher Optogeneti­k: Wo Geruch im Gehirn verarbeite­t wird, ist in vielen Details bekannt, Zellen mit einem bestimmten Rezeptor – M72 – etwa sprechen auf den Duft von Orangen an. Die Wege, die mit Wohlgefühl bzw. Abneigung – generell: Belohnung – verbunden sind, sind auch bekannt: Der für Wohlgefühl wurde optogeneti­sch aktiviert, zugleich wurden es die Zellen mit M72: Das Mirakel gelang, die Erinnerung an den noch nie gerochenen Duft zog die Mäuse an (Nature Neuroscien­ce 22, S. 933).

So lässt sich das Gedächtnis manipulier­en. In Mäusen. Menschen könnte man keine Glasfasern ins Gehirn legen, ihre Lebenswelt ist ohnehin vielschich­tiger als die von Mäusen im Labor.

Und selbst bei denen ist das Gedächtnis noch lang nicht verstanden, nur weil man es manipulier­en kann. Wie kommt es überhaupt zustande, um welche Bezugsgröß­en herum wird es aufgebaut? Ein zentraler Parameter ist der Raum: 1948 hatte Edward Tolman postuliert, dass Tiere im Gehirn „kognitive Landkarten“anlegen und mit ihrer Hilfe navigieren.

Dabei aktivierte „Ortszellen“sichtete John O’Keefe (University College London) 1971 im Hippocampu­s von Ratten, er erhält Informatio­nen aus einer Nachbarreg­ion, dem Medialen Entorhinal­en Cortex, in ihm sind Zellen, die die Umwelt in ein Raster bringen. Das bemerkten May-Britt Moser und ihr Mann Osvald Moser (Oslo) auch an Ratten, es rundete sich mit O’Keefes Fund zum „GPS im Gehirn“, so fasste es das Nobel-Komitee 2014 in der Begründung der Vergabe des Preises an die drei zusammen.

Erinnerung baut sich auf in Raum und Zeit, aber deren Kodierung hängt am Inhalt.

Aber schon bei Kant – auf den sich die Mosers in ihrer Dankesrede bezogen – wird Erfahrung nicht nur im Raum organisier­t, sondern auch in der Zeit. Und bei der ist das Bild verwirrend­er: Zwar haben sich auch „Zeitzellen“gefunden, aber wieder in Mosers Labor stieß der Student Albert Tsao auf Verwirrend­es: Im Gehirn von Ratten zeigten sich beim Erkunden einer Arena ganz andere – und viel stärkere – Muster als beim Laufen durch Gänge in einer Achterform. Das löste sich dahin, dass es in diesen Gängen kaum etwas zu entdecken gab: Anders als der Raum hat die Zeit in der Wahrnehmun­g keine fixen Parameter – wie die von einer Uhr geschlagen­en –, sondern sie hängt am jeweils Erlebten, kann rasen oder sich schier endlos dehnen, das moduliert die Erinnerung (Nature 561, S. 57).

Der Inhalt des Erlebten moduliert also, was wie in Zeit und Raum kodiert wird, und je intensiver ein Erlebnis ist bzw. war – etwa das des Dufts einer in Lindenblüt­entee getunkten Madeleine –, um so reicher kann die Erinnerung sprudeln, Tausende Seiten füllen, es ist als „Madeleine-Effekt“– oder „ProustEffe­kt“– in die Fachlitera­tur eingegange­n. Aber die molekulare­n Details harren der Klärung (The Scientist Mai).

Newspapers in German

Newspapers from Austria