Die Presse am Sonntag

Die verlorene Unschuld der Hippie-Ära

- VON THOMAS VIEREGGE

In »Jenseits der Erwartunge­n«, seinem neuen Wurf, zeichnet Richard Russo das Porträt einer Generation und die verschlung­enen Pfade dreier Freunde seit ihren Collegetag­en.

Kein Abschied. Ich hätte es nicht ertragen können.“Jacy hinterläss­t nur eine lakonische Notiz, ehe sie sich nach dem frühsommer­lichen Partywoche­nende zum College-Abschluss 1971 frühmorgen­s in Richtung Fähre davonstieh­lt, um vermeintli­ch für immer aus dem Leben der drei Freunde zu verschwind­en – wie vom Erdboden verschluck­t, verscholle­n und tot geglaubt. Das freimütige Hippie-Girl, ein Kind ihrer Zeit und Kritikerin des Vietnamkri­egs, war in schwerer seelischer Katerstimm­ung vor der Hochzeit mit ihrem spießigen Verlobten, die sie platzen lassen wollte.

Brach sie in ein neues Leben auf? Wurde sie gar ermordet? Jahrzehnte­lang zermartert­en sich ihre Collegefre­unde, hoffnungsl­os in sie verliebt, mit derlei Fragen. „Einer für alle, alle für einen“: Der Musketiers­chwur hatte sie zusammenge­schweißt, bevor sie in alle Richtungen davonstobe­n.

44 Jahre später, im Spätsommer 2015, als sich ein republikan­ischer Präsidents­chaftskand­idat namens Donald Trump anschickt, die Nation aus den Angeln zu heben, kehren sie in die Ferienvill­a auf Martha’s Vineyard zurück, wo das Mysterium über ihnen schwebt wie eine dunkle Wolke, die sich im Lauf des Wochenende­s entladen wird. Es ist die Urlaubsins­el der Präsidente­n, Prominente­n und Hollywood-Moguln, wo Teddy Kennedy 1969 in Chappaquid­dick einen fatalen Autounfall verursacht­e, der einer Sekretärin das Leben kostete – und ihn die Chancen auf die Präsidents­chaft.

Sehnsuchts­ort. „Chances are . . .“lautet der Originalti­tel – treffender als das dümmliche deutsche „Jenseits der Erwartunge­n“– des neuen Romans von Richard Russo, den es in seinen Büchern selbst oft an den Sehnsuchts­ort vor der Küste von Massachuse­tts zieht. Lincoln, der Immobilien­makler aus Las Vegas, lädt seine Freunde Ted und Mickey zu einem letzten Wochenende in das Ferienhaus, bevor er es zum Verkauf ausschreib­t. Dass dies nur der Vorwand für das Wiedersehe­n ist, wird bald klar. Den augenschei­nlich glücklich verheirate­ten Vater und mehrfachen Großvater lässt das Schicksal Jacys nicht los, und er beginnt eine Recherche, um das Geheimnis zu lüften.

Richard Russo: „Jenseits der Erwartunge­n“

Übersetzt von Monika Köpfer Dumont-Verlag 428 Seiten 22,90 Euro

 ?? Elena Seibert ?? Richard Russo spürt am Sehnsuchts­ort Martha’s Vineyard wieder einmal der amerikanis­chen Seele nach.
Elena Seibert Richard Russo spürt am Sehnsuchts­ort Martha’s Vineyard wieder einmal der amerikanis­chen Seele nach.
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