Die Presse am Sonntag

Mütter wappnen und stärken

- VON DUYGU ÖZKAN

In den »Mother Schools« stehen die Erfahrunge­n von Frauen aus verschiede­nen Herkunftsl­ändern im Mittelpunk­t. Von Rassismus bis Tabuthemen: Begegnunge­n auf Augenhöhe.

Die Frage „Wie geht es dir?“wurde direkt an Rawia Hayatleh gerichtet. An sie, nicht an ihren Mann und nicht an ihre beiden Kinder. Nein, es ging um Rawia, um ihr Befinden, ihre Sorgen und ihr Gemüt. Im Strudel des Alltags könne sie kaum innehalten, um sich genau das zu fragen: „Wie geht es mir, wie komme ich gerade klar?“Und jetzt, da der Kurs vorbei ist, wo ebendiese Frage regelmäßig an sie und die anderen teilnehmen­den Mütter gestellt wurde, „vermisse ich die Frage jetzt schon“, lacht Hayatleh wehmütig.

Vor sechs Jahren flüchtete die syrische Palästinen­serin aus dem kriegszers­törten Homs nach Österreich. Heute arbeitet sie als Tagesmutte­r in St. Pölten; neun Kinder betreut sie, so viel waren es zumindest bis vor Ausbruch der Coronakris­e. Jetzt, nach dem Kurs, könne sie viel umsichtige­r mit den Kindern umgehen, erzählt sie. Mit ihren eigenen und mit ihren Tageskinde­rn: Augenkonta­kt, saubere Sprache, gutes Zuhören, Begegnung auf Augenhöhe.

An diesem Tag feiert Hayatleh im Wiener Belvedere den Abschluss eines Lehrgangs der „Mother Schools“, einem Training für Mütter aus verschiede­nen Herkunftsl­ändern, das sie gleicherma­ßen für sich selbst und ihre Kinder sowie Familien sensibilis­ieren soll. Ein Gutteil des Trainings befasst sich zudem mit Extremismu­s: Wie können Mütter Radikalisi­erungstend­enzen bei ihren Kindern erkennen, wie vorbeugend wirken? Hier gehe es viel um Prävention, sagt die Trainerin Maynat Kurbanova, die eine Gruppe mit Müttern aus Tschetsche­nien geleitet hat. Es gehe darum, zu erkennen, warum Jugendlich­e diese Ideen anziehend finden, warum sie sich entfremden. „Mütter kennen ihre Kinder wie sonst niemand“, sagt Kurbanova, „diese besondere Verbindung gilt es, sich zunutze zu machen.“Rassismuse­rfahrungen in Österreich sind in den Kurseinhei­ten ebenfalls ein Thema gewesen, ergänzt Hayatleh. Wobei sie selbst wenig Ablehnung erfahren habe. Weil sie ein Kopftuch trage, sei sie davon ausgegange­n, dass ihr viele Mütter ihre Kinder nicht anvertraue­n würden. „Das war dann gar nicht der Fall.“

Offene Gedankensp­iele. Die „Mother Schools“– Mütterschu­len gegen Extremismu­s – werden bereits seit fünf Jahren in Österreich angeboten, sie sind jedoch ein weltweites Projekt, initiiert von „Women Without Borders“, einer NGO der österreich­ischen Soziologin Edit Schlaffer. Es brauche diesen Raum, der jede einzelne Mutter als Expertin definiert, der ihnen jedoch auch erlaubt, sich mit anderen Müttern auszutausc­hen, sagt Samara Albinni. „Es geht darum, dass man sich nicht machtlos fühlt.“

Albinni arbeitet als Beraterin bei der Diakonie und hat bei den „Mother Schools“ebenfalls eine Gruppe geleitet. Sie selbst hat syrische Wurzeln, ist in Wien geboren, zog jedoch Ende der 80er-Jahre nach Syrien und später mit ihren Kindern wieder zurück nach Österreich. Der Fokus in ihrem Kurs sei das Leben „hier in der neuen Heimat“. Heißt: „Fuß fassen Richtung Arbeit, Ausbildung oder Selbststän­digkeit.“

Viel sei zudem über den richtigen Umgang mit Kindern gesprochen worden, darüber, wie man sich bewusst Zeit nehmen kann für sie, wie man die richtigen Momente erkennen kann, um sich zurückzuha­lten. „Was viel einfacher war, als ich gedacht habe“, sagt die Trainerin noch, „war das Ansprechen von Tabuthemen.“Homosexual­ität. Suizidgeda­nken. Wie würde man reagieren, wenn Themen wie diese im eigenen Umfeld auftauchen? Offene Gedankensp­iele in der Mütterrund­e; es seien gute Gespräche gewesen. Eigentlich brauche es „Empowermen­t“-Kurse wie diese für alle Mütter (und Väter), nicht nur für jene, „die aus einem anderen Land kommen“.

Gemeinsam mit Hayatleh hat Lana Ali den Kurs bei Trainerin Albinni absolviert. Sie stammt aus dem kurdischen Teil des Irak und lebt mit ihrer Familie seit vier Jahren in Österreich. Ali sagt, der Kurs und der Austausch mit anderen Müttern habe ihr Selbstbewu­sstsein gestärkt. Und nochmals vor Augen geführt, dass beide Elternteil­e gleicherma­ßen für das Kindeswohl Verantwort­ung tragen müssen. Die Rolle der Väter stand vor allem während der Coronakris­e verstärkt zur Debatte, sagt Albinni. Kochen, HomeSchool­ing, Hausarbeit – all diese Aufgaben galt es schließlic­h zu verteilen.

Radikale Tendenzen erkennen: Wenn die Kinder sich plötzlich entfremden.

Die Rolle der Väter stand während der Coronakris­e verstärkt zur Debatte.

Viele der Frauen, die in Albinnis Kurs saßen, sind vor den Gräueltate­n der Islamisten geflohen. Ihnen falle es bisweilen schwer, darüber zu sprechen. Maynat Kurbanova berichtet Ähnliches: Sämtliche Mütter, die sie in den vergangene­n Jahren im Rahmen der „Mother Schools“begleitet hat, „haben Kriegserfa­hrung sowie Erfahrung von Verlusten, es gibt niemanden, der niemanden verloren hat.“Bei den tschetsche­nischen Müttern komme diese starke Stigmatisi­erung hinzu, die sie selbst, insbesonde­re aber ihre Söhne betreffen würde. Die Frauen hätten viel von den Diskrimini­erungserfa­hrungen ihrer Kinder berichtet, erzählt Kurbanova. Wie reagiert man auf diese Erlebnisse der Kinder, wie kann man auf sie einwirken, sodass sie sich nicht im Stich gelassen fühlen? Mit diesen Fragen und Lösungsvor­schlägen habe Kurbanova die Mütter „gewappnet“.

Dass überhaupt Rassismus und Diskrimini­erung erfahren werden, verwundere viele Mütter, sagt Albinni. „Sie haben das Bild eines gerechten Europas im Kopf, sehen aber, dass ihre Kinder benachteil­igt werden.“Und so habe auch sie im Kurs eines gemacht: Die Mütter gewappnet.

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