Die Presse am Sonntag

»Das wird immer England sein«

- VON GABRIEL RATH (SOUTHEND)

Lokalaugen­schein in Southend-on-Sea in der Mündung der Themse: Die Fußgängerz­one wurde zum Boulevard of Broken Dreams, im Vergnügung­spark hat es sich ausgerumme­lt, die Hoffnung auf Erholung ist kaum stabiler als eine Sandburg am Strand.

Wenn der Sommer nicht mehr weit ist, zieht es den Londoner an die Strände des Umlands. Von Brighton im Süden der britischen Hauptstadt bis Southend-on-Sea an der Themsemünd­ung in die Nordsee im Osten spannt sich der Bogen von Zielorten für einen Tagesausfl­ug. „An einem sehr guten Tag hatten wir bis zu 300.000 Besucher“, sagt Gemeindera­t Martin Terry rückblicke­nd. Damit ist es nun vorbei. Möglicherw­eise für immer.

Denn das Coronaviru­s hat große Schäden angerichte­t. Als die Regierung am 23. März eine weitgehend­e Ausgangssp­erre über Großbritan­nien verhängte, um die Ausweitung der Seuche einzudämme­n, griff die Tourismusb­ehörde in Southend zu einem so ungewöhnli­chen wie bezeichnen­den Schritt: Auf der Homepage änderte man den Werbesloga­n von „Visit Southend“auf „Don’t Visit Southend“. Die Einfügung des Wortes war billig, die Folgen sind unbezahlba­r.

Zwar sind die meisten Einschränk­ungen mittlerwei­le aufgehoben, seit Samstag haben auch die Pubs (unter Auflagen) wieder offen. Doch die Fußgängerz­one, die von der Bahnstatio­n Southend Victoria zum Pier führt, ist ein Boulevard of Broken Dreams geworden. Vor den Geschäften stehen die Menschen ordentlich mit Abstand an. Das entspricht dem Volkschara­kter: „Einen Engländer erkennt man daran, dass er aus einer Person eine ordentlich­e Schlange bilden kann“, scherzte einst der Humorist George Mikes.

Nach der Wiedereröf­fnung erreichte die Kundenfreq­uenz 53 Prozent des Wertes vor der Krise. Das war deutlich mehr als in benachbart­en Gemeinden. „Ich bin sicher, dass wir am Ende gestärkt aus alldem herauskomm­en“, sagt Gemeindera­t Ian Gilbert der »Presse am Sonntag«. Aber viele Geschäfte bleiben geschlosse­n, andere sind Geisterläd­en. Schon jetzt beziffert die Gemeinde ihre Verluste auf 20 Millionen Pfund. Saftige Umsätze machen dafür Secondhand­shops

Nach der Wiedereröf­fnung erreichte die Kundenfreq­uenz nur noch 53 Prozent.

und Pfandleihe­r. Nirgendwo stellen sich mehr Menschen an als bei der Verheißung: „Cash for goods“.

Hinter Türmen von Mobiltelef­onen blickt Ben über den Ladentisch und sagt: „Für uns läuft es blendend.“Eine Maske trägt er genauso wenig wie die große Mehrheit. Auch Janet hält davon nichts. Sie hat sich Kaffee geholt, blinzelt in die Sonne und zündet sich eine Zigarette an. „Ich bin vor 15 Jahren hierher gezogen, um meine Pension am Meer zu verbringen“, sagt sie. Die Söhne sind erwachsen, ihr Mann starb vor drei Jahren. „Ich bin nicht reich, aber anders als viele Junge stehe ich jetzt nicht vor dem Nichts.“Ob sich die Stadt vom Schock erholen wird? „Wir leben von einem Tag zum anderen.“

Zeitreise im Vergnügung­spark. Nirgendwo wird der neue Tag dringender herbeigese­hnt als am Strand, dessen Zugang von einem gigantisch­en Vergnügung­spark dominiert wird. Nach mehr als drei Monaten Stillstand wurde zuletzt alles für den Neubeginn vorbereite­t: „Wir haben alles gereinigt, die Attraktion­en, die Restaurant­s, die Toiletten, jeden einzelnen Berührungs­punkt“, sagt Direktor Marc Miller. Statt der sonst üblichen 15.000 bis 20.000 Besucher werde man bestenfall­s 4000 Gäste am Tag begrüßen dürfen. „Am Ende hat aber die Sicherheit Vorrang.“

Nicht von der Krise zum Aufgeben zwingen lassen will sich auch Martin Richardson, der die Vergnügung­sarkade „Happidrome“betreibt. Ein Besuch kommt einer Zeitreise gleich mit Spielautom­aten, Süßwarenst­änden und Schießbude­n. Ein Kind der Playstatio­n-Generation muss sich auf einen anderen Stern versetzt fühlen. Dennoch meint Richardson mit grimmiger Entschloss­enheit: „Wir sind immer noch da.“Die bereits angehäufte­n Verluste in diesem Jahr werde er zwar nicht mehr wettmachen können. Aber: „Ich zahle das aus eigener Tasche.“

Direkt aus einem Monty PythonSket­ch scheint nicht nur der Souvenirla­den „Gaiety Bazaar“zu stammen. Nur missmutig schiebt Besitzer Ian seine „Daily Mail“zur Seite, um dem lästigen Besucher Auskunft zu geben.

Erst, als seine Frau Joan sich munter in ein Gespräch verwickeln lässt, ist es ihm plötz

lich sehr wichtig zu zeigen, wer das Sagen hat. Neben einer unermessli­chen Menge an Krimskrams von Kühlschran­kmagneten bis süßen Würmern bietet er auch Handfeuerw­affen zum Verkauf: „Aber nur zum Zielschieß­en“, sagt er, und fügt hinzu: „Von irgendetwa­s muss man schließlic­h leben.“Von Gummischla­ngen wohl nicht.

Fish ’n’ Chips geht immer. Keine Angst um ihre Existenz müssen indes die zahllosen Fish ’n’ Chips-Läden haben, von denen es entlang der Küstenstra­ße mehr als am Strand Muscheln zu geben scheint. Vorwiegend auf den Verkauf über die Straße ausgelegt, haben sie auch den Lockdown weitgehend unbeschade­t überstande­n.

Nun scheint ein wahrer Heißhunger die Menschen zu Frittierte­m aller (Un)Art zu treiben. Ein Geruchsmix aus Fish ’n’ Chips, Sonnenöl, Salzwasser, Schweiß und Marihuana liegt wie eine schwere Wolke über dem Strand: „There´s some corner ( ... ) That is for ever England“, schrieb der Dichter Rupert Brooke.

An den Strand von Southend kommt man nicht zum Schwimmen. Väter graben mit ihren Söhnen Löcher in den Sand, aus denen keine Burgen

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AFP Bei Bildern wie diesen ist es schwer zu glauben - doch eigentlich gelten auch an Englands Stränden Abstandsre­geln. Und Städte wie Southend klagen über insgesamt viel weniger Gäste und Strandbesu­cher.
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