»Das wird immer England sein«
Lokalaugenschein in Southend-on-Sea in der Mündung der Themse: Die Fußgängerzone wurde zum Boulevard of Broken Dreams, im Vergnügungspark hat es sich ausgerummelt, die Hoffnung auf Erholung ist kaum stabiler als eine Sandburg am Strand.
Wenn der Sommer nicht mehr weit ist, zieht es den Londoner an die Strände des Umlands. Von Brighton im Süden der britischen Hauptstadt bis Southend-on-Sea an der Themsemündung in die Nordsee im Osten spannt sich der Bogen von Zielorten für einen Tagesausflug. „An einem sehr guten Tag hatten wir bis zu 300.000 Besucher“, sagt Gemeinderat Martin Terry rückblickend. Damit ist es nun vorbei. Möglicherweise für immer.
Denn das Coronavirus hat große Schäden angerichtet. Als die Regierung am 23. März eine weitgehende Ausgangssperre über Großbritannien verhängte, um die Ausweitung der Seuche einzudämmen, griff die Tourismusbehörde in Southend zu einem so ungewöhnlichen wie bezeichnenden Schritt: Auf der Homepage änderte man den Werbeslogan von „Visit Southend“auf „Don’t Visit Southend“. Die Einfügung des Wortes war billig, die Folgen sind unbezahlbar.
Zwar sind die meisten Einschränkungen mittlerweile aufgehoben, seit Samstag haben auch die Pubs (unter Auflagen) wieder offen. Doch die Fußgängerzone, die von der Bahnstation Southend Victoria zum Pier führt, ist ein Boulevard of Broken Dreams geworden. Vor den Geschäften stehen die Menschen ordentlich mit Abstand an. Das entspricht dem Volkscharakter: „Einen Engländer erkennt man daran, dass er aus einer Person eine ordentliche Schlange bilden kann“, scherzte einst der Humorist George Mikes.
Nach der Wiedereröffnung erreichte die Kundenfrequenz 53 Prozent des Wertes vor der Krise. Das war deutlich mehr als in benachbarten Gemeinden. „Ich bin sicher, dass wir am Ende gestärkt aus alldem herauskommen“, sagt Gemeinderat Ian Gilbert der »Presse am Sonntag«. Aber viele Geschäfte bleiben geschlossen, andere sind Geisterläden. Schon jetzt beziffert die Gemeinde ihre Verluste auf 20 Millionen Pfund. Saftige Umsätze machen dafür Secondhandshops
Nach der Wiedereröffnung erreichte die Kundenfrequenz nur noch 53 Prozent.
und Pfandleiher. Nirgendwo stellen sich mehr Menschen an als bei der Verheißung: „Cash for goods“.
Hinter Türmen von Mobiltelefonen blickt Ben über den Ladentisch und sagt: „Für uns läuft es blendend.“Eine Maske trägt er genauso wenig wie die große Mehrheit. Auch Janet hält davon nichts. Sie hat sich Kaffee geholt, blinzelt in die Sonne und zündet sich eine Zigarette an. „Ich bin vor 15 Jahren hierher gezogen, um meine Pension am Meer zu verbringen“, sagt sie. Die Söhne sind erwachsen, ihr Mann starb vor drei Jahren. „Ich bin nicht reich, aber anders als viele Junge stehe ich jetzt nicht vor dem Nichts.“Ob sich die Stadt vom Schock erholen wird? „Wir leben von einem Tag zum anderen.“
Zeitreise im Vergnügungspark. Nirgendwo wird der neue Tag dringender herbeigesehnt als am Strand, dessen Zugang von einem gigantischen Vergnügungspark dominiert wird. Nach mehr als drei Monaten Stillstand wurde zuletzt alles für den Neubeginn vorbereitet: „Wir haben alles gereinigt, die Attraktionen, die Restaurants, die Toiletten, jeden einzelnen Berührungspunkt“, sagt Direktor Marc Miller. Statt der sonst üblichen 15.000 bis 20.000 Besucher werde man bestenfalls 4000 Gäste am Tag begrüßen dürfen. „Am Ende hat aber die Sicherheit Vorrang.“
Nicht von der Krise zum Aufgeben zwingen lassen will sich auch Martin Richardson, der die Vergnügungsarkade „Happidrome“betreibt. Ein Besuch kommt einer Zeitreise gleich mit Spielautomaten, Süßwarenständen und Schießbuden. Ein Kind der Playstation-Generation muss sich auf einen anderen Stern versetzt fühlen. Dennoch meint Richardson mit grimmiger Entschlossenheit: „Wir sind immer noch da.“Die bereits angehäuften Verluste in diesem Jahr werde er zwar nicht mehr wettmachen können. Aber: „Ich zahle das aus eigener Tasche.“
Direkt aus einem Monty PythonSketch scheint nicht nur der Souvenirladen „Gaiety Bazaar“zu stammen. Nur missmutig schiebt Besitzer Ian seine „Daily Mail“zur Seite, um dem lästigen Besucher Auskunft zu geben.
Erst, als seine Frau Joan sich munter in ein Gespräch verwickeln lässt, ist es ihm plötz
lich sehr wichtig zu zeigen, wer das Sagen hat. Neben einer unermesslichen Menge an Krimskrams von Kühlschrankmagneten bis süßen Würmern bietet er auch Handfeuerwaffen zum Verkauf: „Aber nur zum Zielschießen“, sagt er, und fügt hinzu: „Von irgendetwas muss man schließlich leben.“Von Gummischlangen wohl nicht.
Fish ’n’ Chips geht immer. Keine Angst um ihre Existenz müssen indes die zahllosen Fish ’n’ Chips-Läden haben, von denen es entlang der Küstenstraße mehr als am Strand Muscheln zu geben scheint. Vorwiegend auf den Verkauf über die Straße ausgelegt, haben sie auch den Lockdown weitgehend unbeschadet überstanden.
Nun scheint ein wahrer Heißhunger die Menschen zu Frittiertem aller (Un)Art zu treiben. Ein Geruchsmix aus Fish ’n’ Chips, Sonnenöl, Salzwasser, Schweiß und Marihuana liegt wie eine schwere Wolke über dem Strand: „There´s some corner ( ... ) That is for ever England“, schrieb der Dichter Rupert Brooke.
An den Strand von Southend kommt man nicht zum Schwimmen. Väter graben mit ihren Söhnen Löcher in den Sand, aus denen keine Burgen