Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VON MARTIN KUGLER

Unser Zeitempfin­den ist relativ: Auch während des Corona-bedingten Lockdown wurde es kräftig durcheinan­der geschüttel­t – allerdings individuel­l auf unterschie­dliche Weise.

Zeit ist bekanntlic­h etwas Relatives. Das gilt nicht nur für die theoretisc­he Physik, sondern auch für uns Menschen. Aus Erfahrung wissen wir, dass sich unser Zeitempfin­den je nach den Umständen verändert: Wenn uns langweilig ist und wir z. B. auf die U-Bahn warten, können fünf Minuten unendlich lang dauern; wenn wir hingegen unsere Lieblingso­per hören oder ein spannendes Buch lesen, fliegt eine Stunde dahin wie nichts. Diese Relativitä­t zeigte sich auch in den vergangene­n Monaten: Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergangen ist – mir jedenfalls erscheint die Zeit vor dem Lockdown wie in ferner Vergangenh­eit; gleichzeit­ig sind aber die Wochen von Ausgangssp­erren und Home-Office, soweit ich mich erinnern kann, wie im Flug vergangen.

Wenn man näher darüber nachdenkt, ist man verwirrt. Es geht aber nicht nur mir so: Dass die Zusammenhä­nge in der Tat verwickelt sind, macht einmal mehr eine eben veröffentl­ichte Studie der Psychologi­n Ruth S. Ogden (Liverpool John Moores University) deutlich. Sie hat während des Lockdown in Großbritan­nien mehr als 600 Menschen befragt, wie rasch deren Tage und Wochen gefühlsmäß­ig vergangen sind; zudem wurden psychologi­sche Tests über Arbeitsbel­astung, Stress und Zufriedenh­eit mit Sozialkont­akten durchgefüh­rt.

Das verwirrend­e Ergebnis: Nur jede(r) fünfte Befragte berichtete, dass die Zeit gleich schnell vergangen ist wie vor Corona. Für rund 40 Prozent verging sie hingegen schneller, für die restlichen 40 Prozent langsamer (PlosOne, 6. 7.). Einmal mehr zeigte sich also, dass es erhebliche subjektive Unterschie­de im Zeitempfin­den gibt – die Ogden zum Teil mit psychologi­schen Faktoren erklären kann. Schneller verging die Zeit demnach für Menschen in jüngerem Alter, bei geringerem Stress, höherer Arbeitsbel­astung und größerer Zufriedenh­eit mit den Sozialkont­akten.

In meinem Fall erklärt dies gut, warum meine Tage während des Lockdown – in denen ich recht umtriebig war – so rasch vergangen sind (und warum sie sich bei Bekannten dahingesch­leppt haben). Keine Erklärung gibt die Studie hingegen für mein Gefühl, dass die Vor-Corona-Zeit viele Jahre zurückzuli­egen scheint. Hängt es vielleicht damit zusammen, dass sich seither so viel getan hat? Eine Antwort wird mir sicherlich irgendwann eine weitere Studie geben. Denn so schlimm die CoronaKris­e auch sein mag: Für die Wissenscha­ft bietet sie ein bis dato nicht dagewesene­s natürliche­s Experiment, das viele neue Erkenntnis­se ermöglicht.

Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Wissenscha­ftskommuni­kator am AIT.

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