Die Presse am Sonntag

Das Gift der Erde

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Die jüngste Bilanz von Arsen im Grundwasse­r lässt bis zu 220 Millionen chronisch Vergiftete fürchten. Und aus der Luft droht die Gefahr auch.

Nach dem ersten Schluck fiel Britannicu­s tot um.“So schilderte Sueton, wie Nero sich anno 50 des Rivalen entledigte. Der war bei der Einladung auf der Hut, er brachte einen Vorkoster mit, der verbrühte sich an einem heißen Getränk die Zunge. Sonst geschah ihm nichts, für Britannicu­s kühlte man nach, mit Wasser, und in dem war es, das „Gift der Könige“, Arsentriox­id, As2O3. Man nannte es auch „König der Gifte“, es ist farb-, geruch- und geschmackl­os, und es war in den Opfern lang nicht nachweisba­r. So starben über Jahrhunder­te Tausende daran, selbst in entlegenst­en Lungauer Tälern, wo das „Erbschleic­hergift“– in Rotgülden für die venezianis­che Glasindust­rie – aus der Erde geholt wurde.

Aber diese Zahlen sind nichts im Vergleich mit denen, die an völlig unbeabsich­tigten – und nicht akuten, sondern chronische­n – Folgen des Gifts niedersank­en, im 19. Jahrhunder­t, etwa in Mietskaser­nen in Wien, an deren feuchten Wänden grüne Tapeten hingen, deren Pigmente das Gift ausdünstet­en. Noch stickender war die Innenluft in England, wo William Morris den Tapetenmar­kt bediente, er war Designer und Sozialrefo­rmer – und Verehrer von Marx –, aber Kapitalist war er schon auch und Mitbesitze­r der größten Arsenmine der Erde. Deshalb nahm er nicht zur Kenntnis, was er mit seinen Tapeten anrichtete, selbst als es weithin bekannt war und das MedizinJou­rnal The Lancet dem Grün an der Wand einen drastische­n Namen gab: „Staub des Teufels“.

Der brachte Zehntausen­den den Tod. Und diese Zahlen sind wieder nichts im Vergleich mit denen, die hundert Jahre später in Bangladesc­h drohten. Dort bekamen manche Menschen Läsionen der Haut, die an Lepra erinnerten – die Opfer wurden aus den Dorfgemein­schaften ausgeschlo­ssen –, andere litten am Herzen und den Atemwegen oder unterschie­dlichsten Tumoren. Das rechnete die Bevölkerun­g dem „Wasser des Teufels“zu, und das war eine unvermutet­e Nebenwirku­ng

einer der wohlmeinen­dsten Taten der Entwicklun­gspolitik: In den 1950er-Jahren starben Bangladesc­her sonder Zahl an Cholera und Diarrhö aus bakterienk­ontaminier­tem Oberfläche­nwasser aus Flüssen und Seen, deshalb begannen Hilfsorgan­isationen, allen voran das UNO-Kinderhilf­swerk Unicef, mit dem Bohren von Brunnen, kleinen, mit Handpumpen.

Das half rasch, aber 30 Jahre später zeigte sich der Fluch der guten Tat: Niemand war auf die Idee gekommen, das Grundwasse­r auf Arsen zu messen, wie hätte das Gift auch hineinkomm­en sollen? Aber es war drin, und es war auf ganz natürliche­n Wegen gekommen, in Gestein, das Gletscher in der letzten Eiszeit im Himalaja abgerieben hatten und das mit Flüssen ins Schwemmlan­d getragen wurde. So etwas gibt es in vielen Regionen der Erde, auch in den österreich­ischen Alpen, aber da bleibt es im Boden, das gut durchlüfte­te Grundwasse­r fließt daran vorbei. In Schwemmlän­dern Ostasiens ist die Hydrogeolo­gie eine andere, das Grundwasse­r fließt wenig, dafür hebt und senkt es sich, mehrere Meter.

Bakterienh­unger. Das bringt seine Bewohner in Bedrängnis, Bakterien, die sich von Pflanzenre­sten nähren. Um deren Kohlenstof­f zu nutzen, brauchen sie Sauerstoff, und wenn sich sauerstoff­armes Grundwasse­r aus der Tiefe hebt, müssen sie eine andere Quelle erschließe­n: Arsen. Das ruht als Arsenat (AsO4) – meist Eisenarsen­at – im Boden und ist nicht wasserlösl­ich, aber die Bakterien wandeln es um in Arsenit (AsO3), das löst sich. Und das brachte Bangladesc­h „die größte Massenverg­iftung einer Bevölkerun­g in der Weltgeschi­chte. Das Ausmaß dieses Umweltdesa­sters übertrifft alle früheren und stellt auch Bhopal und Tschernoby­l in den Schatten“: Jeder 18. verstorben­e Erwachsene in Bangladesc­h ging zu der Zeit auf das Konto von Arsen.

So bilanziert­e die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO 2002, es war eine seltene Erinnerung an die „vergessene Krise“(Nature 422, S. 252). Dass sie nicht ins Bewusstsei­n dringt oder sich zumindest dort nicht hält, mag am schieren Ausmaß liegen: Die Zahl der Brunnen ist Legion – es sind Millionen – und die Zahl der Vergiftete­n wurde von der WHO auf 35 bis 77 Millionen geschätzt, Nature erhöhte auf 80 Millionen,

und Dipankar Chakrabort­y, Epidemiolo­ge in Kalkutta, der das Problem fast im Alleingang an die Öffentlich­keit brachte, fürchtete 150 Millionen.

Es interessie­rte und interessie­rt nur fast niemanden, außer einzelne Forscher wie vor einiger Zeit eine Gruppe von Chemikern um Walter Kosmus an der Uni Graz. Bei diesem Ignorieren mag mitspielen, dass kein Böser im Spiel ist – gegen den Umwelt-NGOs mobilisier­en könnten –, es mag schließlic­h schlicht daran liegen, dass Bangladesc­h eben Bangladesc­h ist: Regionaler Alarm in den USA füllt periodisch die Schlagzeil­en. Dabei ist das Problem dort eher marginal, das zeigt die jüngste globale Bilanz, Joel Podgolski und Michael Berg (Dubendorf) haben sie aus 80 Studien gezogen (Science 22. 5.): Legt man den WHO-Grenzwert von 10 Mikrogramm pro Liter Wasser zugrunde, sind auf dem Erdenrund 94 bis 220 Millionen Menschen gefährdet, 0,2 Prozent davon in Europa, 0,6 in Nordamerik­a, 1,6 in Südamerika, 3,7 in Afrika.

Mit dem »Gift der Könige« wurden Tausende ermordet, auch in Lungauer Tälern.

Ungleich mehr Opfer forderte der »Staub des Teufels« in mit Arsengrün gefärbten Tapeten.

Und die restlichen fast 94 Prozent in Ostasien, vor allem in Bangladesc­h und Westbengal­en, aber etwa auch in Vietnam und Taiwan. In der Region stuft sich das Problem zu allem Unglück dadurch auf, dass das kontaminie­rte Wasser nicht nur getrunken wird, mit ihm kocht man auch, vor allem das Hauptnahru­ngsmittel, das auf – gleichfall­s mit diesem Wasser – gefluteten Feldern gezogen wird: Reis.

Und selbst wo das Wasser sicher ist, kann sich die Gefahr einschleic­hen, durch Arsen, das in der Luft liegt, in die kommt es vor allem durch das Verbrennen von Kohle. Auch hier gibt es eine aktuelle Bilanz, global gezogen aus Exposition und Krebsstati­stiken von Kirk Smith (UC Berkeley): Hauptbetro­ffen ist neben Chile wieder Ostasien, 2005 lag China vorn, 2015 wurde es überholt von Indien – das, anders als China, verstärkt auf Kohlekraft­werke setzte –, Bangladesc­h ist nebenan (Pnas 8. 6.).

Aber das Gift in der Luft findet noch weniger Aufmerksam­keit als das im Boden, die Studie verhallte ohne das geringste Medienecho.

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