Das Gift der Erde
Die jüngste Bilanz von Arsen im Grundwasser lässt bis zu 220 Millionen chronisch Vergiftete fürchten. Und aus der Luft droht die Gefahr auch.
Nach dem ersten Schluck fiel Britannicus tot um.“So schilderte Sueton, wie Nero sich anno 50 des Rivalen entledigte. Der war bei der Einladung auf der Hut, er brachte einen Vorkoster mit, der verbrühte sich an einem heißen Getränk die Zunge. Sonst geschah ihm nichts, für Britannicus kühlte man nach, mit Wasser, und in dem war es, das „Gift der Könige“, Arsentrioxid, As2O3. Man nannte es auch „König der Gifte“, es ist farb-, geruch- und geschmacklos, und es war in den Opfern lang nicht nachweisbar. So starben über Jahrhunderte Tausende daran, selbst in entlegensten Lungauer Tälern, wo das „Erbschleichergift“– in Rotgülden für die venezianische Glasindustrie – aus der Erde geholt wurde.
Aber diese Zahlen sind nichts im Vergleich mit denen, die an völlig unbeabsichtigten – und nicht akuten, sondern chronischen – Folgen des Gifts niedersanken, im 19. Jahrhundert, etwa in Mietskasernen in Wien, an deren feuchten Wänden grüne Tapeten hingen, deren Pigmente das Gift ausdünsteten. Noch stickender war die Innenluft in England, wo William Morris den Tapetenmarkt bediente, er war Designer und Sozialreformer – und Verehrer von Marx –, aber Kapitalist war er schon auch und Mitbesitzer der größten Arsenmine der Erde. Deshalb nahm er nicht zur Kenntnis, was er mit seinen Tapeten anrichtete, selbst als es weithin bekannt war und das MedizinJournal The Lancet dem Grün an der Wand einen drastischen Namen gab: „Staub des Teufels“.
Der brachte Zehntausenden den Tod. Und diese Zahlen sind wieder nichts im Vergleich mit denen, die hundert Jahre später in Bangladesch drohten. Dort bekamen manche Menschen Läsionen der Haut, die an Lepra erinnerten – die Opfer wurden aus den Dorfgemeinschaften ausgeschlossen –, andere litten am Herzen und den Atemwegen oder unterschiedlichsten Tumoren. Das rechnete die Bevölkerung dem „Wasser des Teufels“zu, und das war eine unvermutete Nebenwirkung
einer der wohlmeinendsten Taten der Entwicklungspolitik: In den 1950er-Jahren starben Bangladescher sonder Zahl an Cholera und Diarrhö aus bakterienkontaminiertem Oberflächenwasser aus Flüssen und Seen, deshalb begannen Hilfsorganisationen, allen voran das UNO-Kinderhilfswerk Unicef, mit dem Bohren von Brunnen, kleinen, mit Handpumpen.
Das half rasch, aber 30 Jahre später zeigte sich der Fluch der guten Tat: Niemand war auf die Idee gekommen, das Grundwasser auf Arsen zu messen, wie hätte das Gift auch hineinkommen sollen? Aber es war drin, und es war auf ganz natürlichen Wegen gekommen, in Gestein, das Gletscher in der letzten Eiszeit im Himalaja abgerieben hatten und das mit Flüssen ins Schwemmland getragen wurde. So etwas gibt es in vielen Regionen der Erde, auch in den österreichischen Alpen, aber da bleibt es im Boden, das gut durchlüftete Grundwasser fließt daran vorbei. In Schwemmländern Ostasiens ist die Hydrogeologie eine andere, das Grundwasser fließt wenig, dafür hebt und senkt es sich, mehrere Meter.
Bakterienhunger. Das bringt seine Bewohner in Bedrängnis, Bakterien, die sich von Pflanzenresten nähren. Um deren Kohlenstoff zu nutzen, brauchen sie Sauerstoff, und wenn sich sauerstoffarmes Grundwasser aus der Tiefe hebt, müssen sie eine andere Quelle erschließen: Arsen. Das ruht als Arsenat (AsO4) – meist Eisenarsenat – im Boden und ist nicht wasserlöslich, aber die Bakterien wandeln es um in Arsenit (AsO3), das löst sich. Und das brachte Bangladesch „die größte Massenvergiftung einer Bevölkerung in der Weltgeschichte. Das Ausmaß dieses Umweltdesasters übertrifft alle früheren und stellt auch Bhopal und Tschernobyl in den Schatten“: Jeder 18. verstorbene Erwachsene in Bangladesch ging zu der Zeit auf das Konto von Arsen.
So bilanzierte die Weltgesundheitsorganisation WHO 2002, es war eine seltene Erinnerung an die „vergessene Krise“(Nature 422, S. 252). Dass sie nicht ins Bewusstsein dringt oder sich zumindest dort nicht hält, mag am schieren Ausmaß liegen: Die Zahl der Brunnen ist Legion – es sind Millionen – und die Zahl der Vergifteten wurde von der WHO auf 35 bis 77 Millionen geschätzt, Nature erhöhte auf 80 Millionen,
und Dipankar Chakraborty, Epidemiologe in Kalkutta, der das Problem fast im Alleingang an die Öffentlichkeit brachte, fürchtete 150 Millionen.
Es interessierte und interessiert nur fast niemanden, außer einzelne Forscher wie vor einiger Zeit eine Gruppe von Chemikern um Walter Kosmus an der Uni Graz. Bei diesem Ignorieren mag mitspielen, dass kein Böser im Spiel ist – gegen den Umwelt-NGOs mobilisieren könnten –, es mag schließlich schlicht daran liegen, dass Bangladesch eben Bangladesch ist: Regionaler Alarm in den USA füllt periodisch die Schlagzeilen. Dabei ist das Problem dort eher marginal, das zeigt die jüngste globale Bilanz, Joel Podgolski und Michael Berg (Dubendorf) haben sie aus 80 Studien gezogen (Science 22. 5.): Legt man den WHO-Grenzwert von 10 Mikrogramm pro Liter Wasser zugrunde, sind auf dem Erdenrund 94 bis 220 Millionen Menschen gefährdet, 0,2 Prozent davon in Europa, 0,6 in Nordamerika, 1,6 in Südamerika, 3,7 in Afrika.
Mit dem »Gift der Könige« wurden Tausende ermordet, auch in Lungauer Tälern.
Ungleich mehr Opfer forderte der »Staub des Teufels« in mit Arsengrün gefärbten Tapeten.
Und die restlichen fast 94 Prozent in Ostasien, vor allem in Bangladesch und Westbengalen, aber etwa auch in Vietnam und Taiwan. In der Region stuft sich das Problem zu allem Unglück dadurch auf, dass das kontaminierte Wasser nicht nur getrunken wird, mit ihm kocht man auch, vor allem das Hauptnahrungsmittel, das auf – gleichfalls mit diesem Wasser – gefluteten Feldern gezogen wird: Reis.
Und selbst wo das Wasser sicher ist, kann sich die Gefahr einschleichen, durch Arsen, das in der Luft liegt, in die kommt es vor allem durch das Verbrennen von Kohle. Auch hier gibt es eine aktuelle Bilanz, global gezogen aus Exposition und Krebsstatistiken von Kirk Smith (UC Berkeley): Hauptbetroffen ist neben Chile wieder Ostasien, 2005 lag China vorn, 2015 wurde es überholt von Indien – das, anders als China, verstärkt auf Kohlekraftwerke setzte –, Bangladesch ist nebenan (Pnas 8. 6.).
Aber das Gift in der Luft findet noch weniger Aufmerksamkeit als das im Boden, die Studie verhallte ohne das geringste Medienecho.