Die Presse am Sonntag

Der Kern des Seins

- DO

Nicholas Shakespear­e legt mit »Boomerang« einen nachdenkli­chen Spionagero­man in bester englischer Tradition vor.

Auf den ersten Blick ist John Dyer zu bemitleide­n. Denn im Vergleich zu seinem sozialen Umfeld – der exklusiven Privatschu­le in Oxford, die sein Sohn Leandro besucht –, ist Dyer arm und einsam: Seinen Journalist­enjob hat er gegen brotlose Schriftste­llerei rund um Amazonas-Stämme eingetausc­ht; die erste Frau ist tot, die zweite hat ihn und Leandro für einen reicheren Mann verlassen. Doch Dyer ist ein aufrechter Kerl – und deshalb befindet er sich plötzlich im Besitz einer Formel, die die Welt verändern kann.

Der Erfinder dieser Formel ist der iranische Wissenscha­ftler Marvan, dessen Sohn Samir mit Leandro in die Klasse geht. Mehr oder weniger durch Zufall entdeckt Marvan den Algorithmu­s für die perfekte Kernfusion und weiß nicht, was er damit tun soll. Den Iranern überlassen, die seine Frau und kleine Tochter in Teheran als Geisel festhalten? Den Amerikaner­n? Den Briten? Dem skrupellos­en Geschäftsm­ann Gilles Asselin? Marvan tut nichts von alldem. Er taucht ab und macht Dyer zum Hüter seiner Unterlagen. Wodurch dieser zum Gejagten wird und um sein und das Leben seines Sohnes fürchten muss.

Nicholas Shakespear­e hätte aus diesem Stoff einen atemlosen Pageturner machen können. Stattdesse­n entschied er sich für die Tradition des englischen Spionagero­mans, in dem es eher gemächlich zugeht; in dem die Männer alle nur Nachnamen haben, die Frauen unterschät­zt werden und das Böse nie um eine philosophi­sche Rechtferti­gung verlegen ist. Ein tiefsinnig­er und auf subtile Art spannender Roman.

Nicholas Shakespear­e: „Boomerang“, üb. von Anette Grube, Hoffmann und Campe, 400 S., € 25,70

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