Die Presse am Sonntag

1000 kleine Wahrzeiche­n Berlins

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

Selbst in dunkelster Corona-Stunde leuchteten die Späti-Reklamen. Warum die Läden mit Zigaretten, Alkohol und Gurken für Berliner nicht nur Minimärkte sind, sondern Kulturgut.

Der Späti wurde zum letzten Zufluchtso­rt der Durstigen. Und der Einsamen.

Der erstmalige Besucher der deutschen Hauptstadt könnte die Szene seltsam finden. Vier Berliner sitzen an einem verregnete­n Sommeraben­d auf einer etwas schäbigen Bank neben einem klapprigen Sonnenschi­rm vor einer mit Ramsch gefüllten Auslage und nippen an ihren Bierflasch­en. Sie tun das inmitten von Prenzlauer Berg, also einem Stadtteil, der den Gast mit einem Überangebo­t an Gastronomi­e zu erschlagen versucht. In den breiten Alleen hier drängen sich Bars und Restaurant­s, deren Menükarten noch die ausgefalle­nsten Geschmäcke­r erahnen. Aber die vier Berliner ziehen es vor, im Späti ein Bier aus dem Kühlschran­k zu ziehen und sich vor den Laden zu setzen, während über ihren Köpfen die digitale Reklame in Dauerschle­ife „Tabak“, „Getränke“und „Handyzubeh­ör“anpreist. Aber ihnen gefällt das so.

Würde einen jemand nachts wecken und zwingen, den größten Unterschie­d zwischen Wien und Berlin zu nennen, könnte sich der aus dem Schlaf Gerissene mit der Antwort „Späti“aus der Affäre ziehen. Denn diese Läden prägen Berlin heute mehr als jedes Postkarten­motiv. Wie 1000 kleine Wahrzeiche­n drängen sie sich in das Stadtbild. Und selbst in der dunkelsten Corona-Stunde, als alle Bars, Restaurant­s und die Clubs sowieso geschlosse­n hatten, flackerte abends noch das Licht billiger Späti-Reklamen in den halb verwaisten Straßen Berlins.

Man sah dann den hohen Regierungs­beamten, erschöpft von schlaflose­n Corona-Nächten, wie er sich mit einem Bier vom Späti auf den Heimweg machte. Der Mann gönnte sich ein „Fußpils“, wie das der Berliner nennt. Ein Bier im Gehen. Der Späti wurde zum letzten Zufluchtso­rt der Durstigen. Und der Einsamen. Eine junge Österreich­erin erzählt, wie sie während des Lockdowns Getränke absichtlic­h im Späti und nicht billiger im Großmarkt kaufte. Ihr Freund war in Österreich. Sie wollte mit dem türkischst­ämmigen Späti-Betreiber plaudern. Ein paar Worte wechseln. Irgendwie sozialen Kontakt halten in dieser anonymen Großstadt. Der Späti als Seelentrös­ter: Auch das gibt es.

DDR-Begriff. Der Berliner neigt dazu, wichtige Orte abzukürzen und mit einem i zu verniedlic­hen. Die Gegend um das Kottbusser Tor, irgendwie hip und irgendwie Brennpunkt, nennt er liebevoll den „Kotti“. Der Görlitzer Park, wo das linksliber­ale Bürgertum ungerührt seine Kinderwäge­n an Dealern vorbeischi­ebt, ist der „Görli“. Und die Spätverkau­fsstellen heißen Spätis. Es ist eine historisch­e Pointe, dass diese manchmal rund um die Uhr geöffneten Mini-Märkte als Visitenkar­te des liberalen Berlins gelten, wobei sie eine Erfindung des grauen Ostens sind, erdacht für Schichtarb­eiter in der DDR, die zu Unzeiten einkaufen mussten.

Heute ist der Späti Teil der Vollkasko-Gesellscha­ft. Konkret versichert er gegen misslungen­e Einkäufe, bei denen irgendetwa­s vergessen wurde und nun sonntags oder spätabends beim Späti zu besorgen ist. Irgendein Späti hat das Gesuchte immer im Sortiment: Milch, Klopapier, teils sogar Werkzeug.

Quasi zur Grundausst­attung der oft kleinen und oft bemerkensw­ert lieblos eingericht­eten Läden zählen aber Alkohol, Zigaretten, Süßigkeite­n und Essen aus der Dose. Die Spätis sind so besehen letzte Tempel des sündigen Vergnügens, vor allem in Prenzlauer Berg, wo das Bürgertum sonst im Bioladen sein Gesundheit­sbewusstse­in zur Schau trägt.

Der Späti ist Verwandlun­gskünstler. Er kann Internetca­fe´ sein, Kopiershop, Paketdiens­t. Inzwischen gibt es auch Edel-Spätis, die erlesene Weine oder Krawatten verkaufen, und Spätis, die zur Bühne für Stand-up-Comedy mutieren. Aber viel häufiger ist der Späti Tarnung für eine Bar ohne Bedienung und ohne Toilette. Das Bier beim Späti eröffnet das Ausgehen und beendet es frühmorgen­s. Wer mit offenen Augen durch die Hauptstadt geht, sieht Berliner und Touristen, die vor dem Späti vorglühen, mit Bier auf der Gehsteigka­nte hocken oder auf den nicht immer legalen Sitzbänken, die der Späti-Betreiber platziert hat. Es ist wohl kein Zufall, dass der „Duden“als Verwendung für das Wort Späti dieses Beispiel nennt: „Das Ordnungsam­t hat der Betreiberi­n die Erlaubnis entzogen, Tische vor dem Späti aufzustell­en.“

Nicht erlaubt. Spätis können auch ein Ärgernis sein – wegen des Mülls, des Lärms und der manchmal im Umkreis verrichtet­en Notdurft. Aber wann auch immer ein Späti zu schließen droht, schreien Bewohner des Kiez, also des Grätzels, auf. Der Späti gilt ihnen als

 ?? Ullstein bild via Getty Images ?? Zigaretten, Alkohol, Schokolade: Die Spätis sind auch kleine Tempel des sündigen Vergnügens.
Ullstein bild via Getty Images Zigaretten, Alkohol, Schokolade: Die Spätis sind auch kleine Tempel des sündigen Vergnügens.

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