1000 kleine Wahrzeichen Berlins
Selbst in dunkelster Corona-Stunde leuchteten die Späti-Reklamen. Warum die Läden mit Zigaretten, Alkohol und Gurken für Berliner nicht nur Minimärkte sind, sondern Kulturgut.
Der Späti wurde zum letzten Zufluchtsort der Durstigen. Und der Einsamen.
Der erstmalige Besucher der deutschen Hauptstadt könnte die Szene seltsam finden. Vier Berliner sitzen an einem verregneten Sommerabend auf einer etwas schäbigen Bank neben einem klapprigen Sonnenschirm vor einer mit Ramsch gefüllten Auslage und nippen an ihren Bierflaschen. Sie tun das inmitten von Prenzlauer Berg, also einem Stadtteil, der den Gast mit einem Überangebot an Gastronomie zu erschlagen versucht. In den breiten Alleen hier drängen sich Bars und Restaurants, deren Menükarten noch die ausgefallensten Geschmäcker erahnen. Aber die vier Berliner ziehen es vor, im Späti ein Bier aus dem Kühlschrank zu ziehen und sich vor den Laden zu setzen, während über ihren Köpfen die digitale Reklame in Dauerschleife „Tabak“, „Getränke“und „Handyzubehör“anpreist. Aber ihnen gefällt das so.
Würde einen jemand nachts wecken und zwingen, den größten Unterschied zwischen Wien und Berlin zu nennen, könnte sich der aus dem Schlaf Gerissene mit der Antwort „Späti“aus der Affäre ziehen. Denn diese Läden prägen Berlin heute mehr als jedes Postkartenmotiv. Wie 1000 kleine Wahrzeichen drängen sie sich in das Stadtbild. Und selbst in der dunkelsten Corona-Stunde, als alle Bars, Restaurants und die Clubs sowieso geschlossen hatten, flackerte abends noch das Licht billiger Späti-Reklamen in den halb verwaisten Straßen Berlins.
Man sah dann den hohen Regierungsbeamten, erschöpft von schlaflosen Corona-Nächten, wie er sich mit einem Bier vom Späti auf den Heimweg machte. Der Mann gönnte sich ein „Fußpils“, wie das der Berliner nennt. Ein Bier im Gehen. Der Späti wurde zum letzten Zufluchtsort der Durstigen. Und der Einsamen. Eine junge Österreicherin erzählt, wie sie während des Lockdowns Getränke absichtlich im Späti und nicht billiger im Großmarkt kaufte. Ihr Freund war in Österreich. Sie wollte mit dem türkischstämmigen Späti-Betreiber plaudern. Ein paar Worte wechseln. Irgendwie sozialen Kontakt halten in dieser anonymen Großstadt. Der Späti als Seelentröster: Auch das gibt es.
DDR-Begriff. Der Berliner neigt dazu, wichtige Orte abzukürzen und mit einem i zu verniedlichen. Die Gegend um das Kottbusser Tor, irgendwie hip und irgendwie Brennpunkt, nennt er liebevoll den „Kotti“. Der Görlitzer Park, wo das linksliberale Bürgertum ungerührt seine Kinderwägen an Dealern vorbeischiebt, ist der „Görli“. Und die Spätverkaufsstellen heißen Spätis. Es ist eine historische Pointe, dass diese manchmal rund um die Uhr geöffneten Mini-Märkte als Visitenkarte des liberalen Berlins gelten, wobei sie eine Erfindung des grauen Ostens sind, erdacht für Schichtarbeiter in der DDR, die zu Unzeiten einkaufen mussten.
Heute ist der Späti Teil der Vollkasko-Gesellschaft. Konkret versichert er gegen misslungene Einkäufe, bei denen irgendetwas vergessen wurde und nun sonntags oder spätabends beim Späti zu besorgen ist. Irgendein Späti hat das Gesuchte immer im Sortiment: Milch, Klopapier, teils sogar Werkzeug.
Quasi zur Grundausstattung der oft kleinen und oft bemerkenswert lieblos eingerichteten Läden zählen aber Alkohol, Zigaretten, Süßigkeiten und Essen aus der Dose. Die Spätis sind so besehen letzte Tempel des sündigen Vergnügens, vor allem in Prenzlauer Berg, wo das Bürgertum sonst im Bioladen sein Gesundheitsbewusstsein zur Schau trägt.
Der Späti ist Verwandlungskünstler. Er kann Internetcafe´ sein, Kopiershop, Paketdienst. Inzwischen gibt es auch Edel-Spätis, die erlesene Weine oder Krawatten verkaufen, und Spätis, die zur Bühne für Stand-up-Comedy mutieren. Aber viel häufiger ist der Späti Tarnung für eine Bar ohne Bedienung und ohne Toilette. Das Bier beim Späti eröffnet das Ausgehen und beendet es frühmorgens. Wer mit offenen Augen durch die Hauptstadt geht, sieht Berliner und Touristen, die vor dem Späti vorglühen, mit Bier auf der Gehsteigkante hocken oder auf den nicht immer legalen Sitzbänken, die der Späti-Betreiber platziert hat. Es ist wohl kein Zufall, dass der „Duden“als Verwendung für das Wort Späti dieses Beispiel nennt: „Das Ordnungsamt hat der Betreiberin die Erlaubnis entzogen, Tische vor dem Späti aufzustellen.“
Nicht erlaubt. Spätis können auch ein Ärgernis sein – wegen des Mülls, des Lärms und der manchmal im Umkreis verrichteten Notdurft. Aber wann auch immer ein Späti zu schließen droht, schreien Bewohner des Kiez, also des Grätzels, auf. Der Späti gilt ihnen als