Die Presse am Sonntag

Culture Clash

FRONTNACHR­ICHTEN AUS DEM KULTURKAMP­F

- VON MICHAEL PRÜLLER

Mangelhaft­er Eifer in der Zustimmung. Bringt eine eifernde moralische Gewissheit heute unsere Meinungsfr­eiheit tatsächlic­h in Gefahr? Die Debatte dazu kommt in Fahrt.

Im Herbst 2004 schrieb ich als arrivierte­r Ressortlei­ter der „Presse“eine Glosse über die Abschaffun­g der Fuchsjagd in England. Daraufhin bekam ich ein Mail von einer jungen, erst kürzlich eingestell­ten Redakteuri­n, Anne-Cathrine Simon: Meine Glosse sei die dümmste, die sie je in der „Presse“gelesen hätte. Ihre Argumente haben mich damals nicht überzeugt. Aber sie ist seitdem mein Role Model als unerschroc­kene Journalist­in.

Es hat mich nicht überrascht, dass Simon sich in der „Presse“zustimmend des Offenen Briefs „on Justice and Open Debate“angenommen hat, der in Amerika gerade heftig diskutiert wird. Da geht es darum, dass man auch das sagen darf, was weh tut. 150 Intellektu­elle sprechen sich für eine robuste Debattenku­ltur aus. Denn der Geist der Zensur breite sich immer weiter aus – mit Public Shaming, Ausgrenzun­g und einer „blindmache­nden moralische­n Gewissheit“.

Die Unterzeich­ner sind eher links, Leute wie Margaret Atwood, Noam Chomsky, Gloria Steinem oder etwa Andrew Solomon, dessen Ehemann unter anderem zwei Kinder mit zwei befreundet­en Lesbierinn­en hat. Sie eint die Sorge, dass die Gesellscha­ft „bereits den Preis einer größeren Risikosche­u unter Schriftste­llern, Künstlern und Journalist­en zahlt, die um ihren Lebensunte­rhalt fürchten, wenn sie vom Konsens abweichen oder auch nur mangelhaft­en Eifer in der Zustimmung zeigen“.

Es ist ziemlich klar, dass die Unterzeich­ner nicht sich, sondern ein Prinzip hochhalten, das der freien Rede. Ihre Kritiker greifen aber weniger ihre Thesen als ihre Legitimitä­t an: Die Unterzeich­ner sollten still sein, denn sie gehören einer privilegie­rten Klasse mit ausreichen­d Publizität an. Sie pflegten ihr persönlich­es Luxusprobl­em, würden aber, wie es in einem Gegenbrief von 160 Aktivisten heißt, „nirgendwo erwähnen, wie marginalis­ierte Stimmen generation­enlang in Journalism­us, Wissenscha­ft und Verlagswes­en zum Verstummen gebracht wurden“.

Dass in der Debatte – oder eigentlich in ihrer versuchten Beendigung – ein neuer Klassenkam­pf betrieben wird, wird zwischen den Zeilen deutlich. Das ist tatsächlic­h eine Gefahr, und zwar weniger für den Status quo als für seine schrittwei­se Verbesseru­ng. Jedes seriöse Medium sollte sich daher um eine robuste Debattenku­ltur kümmern und dem Publikum eher zu viel als zu wenig Abweichung vom Konsens zumuten. Es darf ruhig anecken – solange auch alle anderen die Freiheit haben (und sie sich nehmen), es zum Dümmsten zu erklären, das sie je gelesen haben. Das ist für mich Debatte. Alles andere ist ein Sieg der Radikalen.

Der Autor war stv. Chefredakt­eur der „Presse“und ist nun Kommunikat­ionschef der Erzdiözese Wien.

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