Culture Clash
FRONTNACHRICHTEN AUS DEM KULTURKAMPF
Mangelhafter Eifer in der Zustimmung. Bringt eine eifernde moralische Gewissheit heute unsere Meinungsfreiheit tatsächlich in Gefahr? Die Debatte dazu kommt in Fahrt.
Im Herbst 2004 schrieb ich als arrivierter Ressortleiter der „Presse“eine Glosse über die Abschaffung der Fuchsjagd in England. Daraufhin bekam ich ein Mail von einer jungen, erst kürzlich eingestellten Redakteurin, Anne-Cathrine Simon: Meine Glosse sei die dümmste, die sie je in der „Presse“gelesen hätte. Ihre Argumente haben mich damals nicht überzeugt. Aber sie ist seitdem mein Role Model als unerschrockene Journalistin.
Es hat mich nicht überrascht, dass Simon sich in der „Presse“zustimmend des Offenen Briefs „on Justice and Open Debate“angenommen hat, der in Amerika gerade heftig diskutiert wird. Da geht es darum, dass man auch das sagen darf, was weh tut. 150 Intellektuelle sprechen sich für eine robuste Debattenkultur aus. Denn der Geist der Zensur breite sich immer weiter aus – mit Public Shaming, Ausgrenzung und einer „blindmachenden moralischen Gewissheit“.
Die Unterzeichner sind eher links, Leute wie Margaret Atwood, Noam Chomsky, Gloria Steinem oder etwa Andrew Solomon, dessen Ehemann unter anderem zwei Kinder mit zwei befreundeten Lesbierinnen hat. Sie eint die Sorge, dass die Gesellschaft „bereits den Preis einer größeren Risikoscheu unter Schriftstellern, Künstlern und Journalisten zahlt, die um ihren Lebensunterhalt fürchten, wenn sie vom Konsens abweichen oder auch nur mangelhaften Eifer in der Zustimmung zeigen“.
Es ist ziemlich klar, dass die Unterzeichner nicht sich, sondern ein Prinzip hochhalten, das der freien Rede. Ihre Kritiker greifen aber weniger ihre Thesen als ihre Legitimität an: Die Unterzeichner sollten still sein, denn sie gehören einer privilegierten Klasse mit ausreichend Publizität an. Sie pflegten ihr persönliches Luxusproblem, würden aber, wie es in einem Gegenbrief von 160 Aktivisten heißt, „nirgendwo erwähnen, wie marginalisierte Stimmen generationenlang in Journalismus, Wissenschaft und Verlagswesen zum Verstummen gebracht wurden“.
Dass in der Debatte – oder eigentlich in ihrer versuchten Beendigung – ein neuer Klassenkampf betrieben wird, wird zwischen den Zeilen deutlich. Das ist tatsächlich eine Gefahr, und zwar weniger für den Status quo als für seine schrittweise Verbesserung. Jedes seriöse Medium sollte sich daher um eine robuste Debattenkultur kümmern und dem Publikum eher zu viel als zu wenig Abweichung vom Konsens zumuten. Es darf ruhig anecken – solange auch alle anderen die Freiheit haben (und sie sich nehmen), es zum Dümmsten zu erklären, das sie je gelesen haben. Das ist für mich Debatte. Alles andere ist ein Sieg der Radikalen.
Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.