»Die Größe des Landes zählt«
Er hält Russlands führenden Mobilfunk- und Holzkonzern, dazu den drittgrößten Onlinehandel – und arbeitet an einer Covidimpfung. Milliardär Wladimir Jewtuschenkow über Russlands Hilfsbedürftigkeit, Chinas Schläue – und Wolfgang Schüssel.
2006 wollten Sie bei der Deutschen Telekom einsteigen, dann bei Infineon – beides scheiterte. Nun kauften Sie die Real-Supermärkte von Metro. Warum wollen Sie immer wieder nach Deutschland expandieren? Wladimir Jewtuschenkow: Vielleicht weil ich die Deutschen so gern mag. Wir sind ein in Moskau und London notierter Konzern mit breitem Portfolio. Da ist es selbstverständlich, dass wir auch international wie in Deutschland immer Investitionsmöglichkeiten prüfen.
Bei Ihnen sitzt nicht nur Ex-Telekomchef Ron Sommer im Aufsichtsrat von AFK Sistema . . . . . . Er begleitet uns schon fast 20 Jahre.
Was ich sagen wollte: Sie hatten auch Österreichs Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel im Aufsichtsrat Ihres Mobilfunkkonzerns MTS. Aber nur ein Jahr bis 2019. Warum so kurz? Wir sind keine politische Organisation.
Aber Sie wussten, dass er Politiker war, und haben ihn genommen.
Wir haben ihn vor allem genommen, weil er ein feiner und professioneller Mensch ist. Wir haben mit ihm eine gemeinsame Geschichte, sind beide in der Organisation „Russland-Europa“aktiv. Wir haben uns oft getroffen. Weil ich ihn gut kenne und er viele Beziehungen hat, habe ich ihn für den Aufsichtsrat vorgeschlagen.
Offenbar hat er die Erwartungen nicht erfüllt, weil er so schnell weg gewesen ist. Warum? Das stimmt nicht, das habe ich nicht gesagt. Er hat sie sehr erfüllt. Wir treffen uns übrigens auch heute noch.
Zurück zur Real-Kette: Während Sie in Russland mit dem drittgrößten Onlinehändler Ozon stark expandieren, verkaufen Sie das Onlinegeschäft von Real.de. Warum?
Weil wir uns zuerst auf Russland und auf den möglichen Börsengang 2021 konzentrieren. Das Onlinegeschäft hat sich durch die Coronapandemie extrem beschleunigt. Ozon wächst mit mehr als 200 Prozent pro Monat.
Vor Kurzem traf sich Ozon-CEO Shulgin mit Amazon-Chef Jeff Bezos, da dieser Interesse an Ozon zeigte. Verhandeln Sie?
Nein. Wir wollten mit der japanischen Softbank und mit Amazon kooperieren, aber bei den Bedingungen kamen wir nicht zueinander. Außerdem: Wenn ein Unternehmen sich gerade stark entwickelt, sollte man es nicht in ausländische Hände geben.
Mal ehrlich, hätte der Kreml einer solchen Beteiligung überhaupt zugestimmt?
Ozon ist nicht so groß, dass es strategische Interessen des Staates berührt. Erst bei einer riesigen Marktmacht wird man einen solchen Schritt wohl mit dem Staat abstimmen müssen.
Warum ich frage: Auch die staatliche und größte russische Bank, Sberbank, will eine Drittelbeteiligung bei Ozon erwirken, wie kolportiert wird. Verhandeln Sie bereits?
Ja. Gewiss, Verhandlungen können in jedem Moment platzen. Eine falsche Bewegung und es ist vorbei. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Sberbank beteiligt, ist groß.
Das beunruhigt Sie nicht? 2014 mussten Sie schon den Ölkonzern Bashneft an den Staat abgeben. Und nun verhält sich die Sberbank im Bereich der Internetökonomie wie ein Krake, der alles frisst. Der Staat scheint sich nun auch in diesem Sektor breitzumachen. Das denke ich überhaupt nicht, es geht nicht um Öl und Gas, sondern um einen jungen Sektor. Und da können wir selbst wählen, mit wem wir kooperieren wollen. Zur Sberbank: Erstens haben wir mit ihr bereits viele gemeinsame Projekte, die erfolgreich sind. Zweitens würde sie bei Ozon keine dominante Rolle haben. Und drittens ist sie eine Verfechterin der Marktwirtschaft und will den Börsengang wie wir. Ich sehe daher keine großen Risiken.
Wladimir Jewtuschenkow über den Fortschritt: „Die Größe des Landes zählt – oder man bündelt die Kräfte.“
Die wahren Internetgiganten kommen aus den USA und China. Steht Russland vor der Wahl, mit wem es da enger zusammengeht? Obwohl Russland viele Fehler macht, ist es ziemlich klug. Ich denke, es findet den richtigen Weg.
Wird die Weltwirtschaft Ihres Erachtens V-, U-, W- oder L-förmig aus der Krise gehen? Ich lese sehr viel darüber. Viele Ökonomen versuchen, in der Vergangenheit Rezepte für die Zukunft zu finden. Aber leider kann man diese nicht übertragen. Es finden ganz einfach zu viele Prozesse gleichzeitig statt, nicht nur ökonomische, auch politische, die sehr schwer verständlich sind. Dazu gesellschaftliche – etwa derzeit in den USA.
Ist das Schlimmste der Krise vorbei?
Schwer zu sagen. Die Klimaveränderungen werden stärker. Ich sehe einen Berg von Problemen, etwa die Staatsverschuldung in Westeuropa. Irgendwann wird man zahlen oder die Arbeitsproduktivität erhöhen müssen. Aber ich kenne den Stand der modernen Technologie, und da zeichnet sich nicht ab, woher eine schnelle Erhöhung der Arbeitsproduktivität kommen soll. Mit dem Leben auf Pump aber häufen sich die Probleme. Und gelöst werden sie sicher nicht von einem einzelnen Staatschef. Aber wie sagte Winston Churchill: „Erfolg ist die Fähigkeit, von einem Misserfolg zum anderen zu gehen, ohne seine Begeisterung zu verlieren.“Ich bin von Natur aus Optimist.
Sie sind geschäftlich in gut 20 Ländern aktiv. Welche, denken Sie, kommen am besten mit den jetzigen Herausforderungen zurecht? Bevölkerungsreiche, die sich langsam entwickelt haben. China hat großes Potenzial, Indien. Es geht ja um riesige technologische Herausforderungen generell. Und da zählt die Größe des Landes – oder man bündelt die Kräfte zu Multiplikatoren. Je mehr intellektuelles Potenzial sich zusammentut, umso mehr wird Geld für Innovationen freigemacht und umso größer der Effekt.
In gewisser Weise passiert das ja gerade bei der Forschung an einem Corona-Impfstoff . . . ...schauen Sie, wer einen baldigen Impfstoff angekündigt hat: die USA, China, Russland und England. Hier sieht man akkumuliertes intellektuelles Potenzial. In Russland müssen wir dankbar sein für das Bildungssystem in der UdSSR: Das Verständnis dafür, dass man technologische Entwicklung forcieren muss, hat zu einer starken Grundlagenforschung geführt, auf der alles aufbaut. China hat das im Unterschied zu Japan kapiert und eine Grundlagenforschung entwickelt.
Soll heißen, Russland kann hier mithalten? Wie in vielen Ländern hat sich auch in Russland hier viel geändert – und bei Weitem nicht zum Guten. Aber es besteht Hoffnung, die Lücke zu schließen.
Firmen Ihrer Holding produzieren Coronatests und forschen an einer Impfung. Wann wird die Welt eine Covidimpfung haben? Heuer wird es eine Impfung geben.
Ich kann mich natürlich irren. Aber ich bin hier ein großer Optimist.
Wie weit sind Sie mit der Entwicklung? Wir sind bei den klinischen Tests.
Russland hat nach den USA und Brasilien die meisten Coronainfektionen. Aber das ist nur eines der Probleme. Wirtschaftssanktionen bestehen, der Ölpreis ist eingebrochen. Wie lang hält Russland diese Schläge noch aus? Es hat in seiner tausendjährigen Geschichte so viel abgekriegt, dass diese Schläge relativ mikroskopisch sind.
Aber mit dem Wirtschaftswachstum klappt es schon länger nicht. 2019 mickrige 1,3 Prozent. Und den Prognosen des Internationalen Währungsfonds zufolge wird der Abstand zur globalen BIP-Entwicklung größer statt kleiner. Läuten nicht die Alarmglocken? Sehr wohl. Und zwar bei allen, die sich um dieses Land sorgen. Wir wissen sehr genau, was wie zu tun wäre. Aber viele äußere Faktoren stören uns dabei. Auch die Sanktionen, zumal sie auf Beschränkungen bei Technologie und beim Zugang zum Kapitalmarkt zielen.
Es gibt innere Faktoren. Mit der neuen Verfassung kann Wladimir Putin bis 2036 im Amt bleiben. Ist das nicht entmutigend? Warum sollte es das sein?
Weil er seit Jahren keinen wirtschaftlichen Aufschwung mehr hinkriegt.
Ich denke, es geht am Thema vorbei, wenn wir in diesem Kontext nur von Putin reden. Nie kann ein einzelner Mensch daran schuld sein. Wahrscheinlich sind wir alle zu einem gewissen Grad schuld – das ist das eine. Und das andere ist, dass die Mehrheit eben für seinen Verbleib an der Macht gestimmt hat. Das muss man akzeptieren und für sein Business eben eine entsprechende Strategie ausarbeiten.
Was braucht es, damit Russlands Wirtschaftsleistung schneller wächst und sich der Abstand zur globalen verringert?
Leider können wir uns nur auf unsere eigenen Kräfte verlassen. Würde es für Russland wie seinerzeit für Deutschland nach dem Krieg einen ökonomischen Aufbauplan geben, wäre alles anders. Freilich nicht in dem damaligen Sinn, dass einem besiegten Land geholfen wird, sondern hinsichtlich der Entwicklung von Wissenschaft, Technologie und Finanzinvestitionen. Den sanktionsbedingt eingeschränkten Zugang zu ihnen und zu den modernsten Technologien spüren wir sehr.
Wäre die Aufhebung der Sanktionen also schon ein solcher Plan?
Nein, noch nicht. Es wäre aber die Wiederherstellung einer historischen Gerechtigkeit.
Würden Sie derzeit zu Investitionen in Russland raten?
Es ist jedenfalls nicht gefährlicher als etwa in den USA, Japan oder Indien.
Die Deutsch-Russische Außenhandelskammer hat neulich konstatiert, dass sechs Jahre nach Einführung der Sanktionen die Chinesen zu starken Konkurrenten für westliche Firmen in Russland geworden sind . . .
. . . ja, das stimmt.
Würden Sie sagen, dass der Westen dadurch vieles verloren hat, was er nicht wiedererlangen kann?
Nein, alles ist möglich. Es ist ein großer Fehler, zu behaupten, dass die Chinesen in Russland dominieren. Ja, sie haben zweierlei vermocht: ihre Produkte auf nahezu europäische Qualität zu heben und mit dem niedrigeren Preis ein sehr akzeptables Preis-Qualität-Verhältnis für Russland zu schaffen.