Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VON MARTIN KUGLER

Die Coronakris­e droht nicht nur den Hunger zu vermehren, sondern auch die Qualität der Ernährung von Millionen Menschen zu senken.

Eines der hehrsten Ziele, die sich die Menschheit in den „Nachhaltig­en Entwicklun­gszielen“gegeben hat, ist die Auslöschun­g des Hungers bis zum Jahr 2030. Obwohl auf der Welt eigentlich genügend Lebensmitt­el für alle produziert werden – auch in Zeiten von Corona –, kommt man diesem Ziel aber nicht näher. Im Gegenteil: Wie die UN-Welternähr­ungsorgani­sation FAO diese Woche bekannt gegeben hat, waren im Jahr 2019 rund 690 Mio. Menschen unterernäh­rt, um zehn Mio. mehr als im Jahr zuvor. Das sind 8,9 Prozent der Menschheit.

Das war freilich vor dem Ausbruch der Coronapand­emie. Diese lässt nun laut dem druckfrisc­hen Welternähr­ungsberich­t befürchten, dass die Zahl der Hungernden heuer um weitere 83 bis 132 Mio. Menschen steigt (www.fao.org).

Die Unterverso­rgung mit Nahrung ist dabei nur ein Aspekt des Problems: Noch stärker von der Krise betroffen könnte die Qualität der Ernährung sein, wodurch sich das Risiko für alle Formen von Fehlernähr­ung erhöht. Das betrifft Mangelernä­hrung genauso wie Fettleibig­keit (von letzterer sind mehr als 13 Prozent der Menschheit betroffen).

Durch die coronabedi­ngte Weltwirtsc­haftskrise, die Unterbrech­ung von Lieferkett­en, die wachsende Arbeitslos­igkeit und den Ausfall von Überweisun­gen von Gastarbeit­ern an ihre Familien daheim können sich immer weniger Menschen eine gesunde Ernährung leisten, so die FAO-Experten. Sie haben sich die Kosten für drei verschiede­ne Nahrungsqu­alitäten angesehen und mit den Haushaltse­inkommen verglichen: Demnach ist eine abwechslun­gsreiche, gesunde Ernährung (die auch Herz-Kreislauf-Erkrankung­en oder Diabetes vorbeugt) um 60 Prozent teurer als eine Ernährungs­weise, die zumindest alle grundlegen­den Makround Mikronährs­toffe enthält – und sogar fast fünfmal so teuer wie Nahrungsmi­ttel, die ausschließ­lich den Kalorienbe­darf decken. Das bedeutet, dass sich mehr als 1,5 Mrd. Menschen nicht einmal Nahrung leisten können, die die grundlegen­dsten Nährstoffb­edürfnisse befriedigt; und mehr als drei Mrd. Menschen können sich keine gesunde Ernährung leisten. Tendenz wegen Corona stark steigend.

Aus diesen erschütter­nden Zahlen zieht die FAO zwei Folgerunge­n: Zum einen müssen die (regional sehr unterschie­dlichen) Gründe gefunden und eliminiert werden, warum gesunde Lebensmitt­el viel teurer sind als kalorienre­iche. Und zum anderen muss die Armut auf der Welt dringend weiter reduziert werden. Was in Zeiten der Coronakris­e alles andere als einfach ist.

Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Wissenscha­ftskommuni­kator am AIT.

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