Es muss nicht immer Fußball sein
Den »Golden Summer of Sport« wird es in Großbritannien heuer nicht geben, aber viele Disziplinen streben dennoch eine Rückkehr an, ehe neue Corona-Rückschläge drohen. Warum? »It’s British«, und allein das genügt schon als Antwort.
Kaum etwas spielt in Großbritannien bei der Rückkehr aus der Coronakrise eine so große Rolle wie Sport. Einen „Golden Summer of Sport“verspricht die Regierung und versucht der Bevölkerung mit Brot und Spielen einen Hauch Normalität wiederzugeben. „Den Sommer ohne Cricket kann es in diesem Land nicht geben“, schrieb einst Kritiker Neville Cardus. Männer, die in blütenweißer Kleidung auf grünen Wiesen eine Lederkugel zu zügeln versuchen, gehören so sehr zum Bild des Landes, dass der frühere Premierminister John Major einst wehmütig ausmalte: „Auch in 50 Jahren werden wir noch ein Land sein, in dem sich abends lange Schatten über Cricketplätze legen.“
Major war glühender Fan des edlen Schlagballwerfens, und wie er fieberten Millionen Briten der Rückkehr des Sports entgegen. Rund 300.000 Spieler, von Profis bis zu leidenschaftlichen Amateuren, gibt es. Den Startschuss gab vor einer Woche eine Serie von Länderspielen zwischen England und den West Indies. Dass die Engländer die erste Partie gleich verloren, war ebenso erwartet wie zweitrangig.
Denn auch im Cricket muss man sich erst an die neuen Vorschriften gewöhnen. Gespielt werden darf nur in „biosecure bubbles“, in geschützten Blasen ohne Publikum. Alle 20 Minuten müssen Spieler zum Händewaschen und Reinigen des Spielgeräts pausieren. Der Austausch von Schlagstöcken soll unterbleiben. Unterbrechungen gehören ebenso zum Wesen des Crickets wie die für Nichteingeweihte auf ewig unverständlichen Regeln. Daran wird der Sport nicht zugrunde gehen. Aber all die notwendigen Eingriffe stehen in scharfem Widerspruch zu dem, was George Orwell als wahre Natur des Crickets identifiziert hat: „Hier drückt sich der englische Nationalcharakter aus, dass wir Form und Stil mehr schätzen als Erfolg.“
„My Lord“: Erdbeeren und Hüte! Auf der Insel geht es auch um das Rundherum, die Nebengeräusche. Was wäre Tennis in Wimbledon ohne Erdbeeren mit Rahm, Gurkensandwiches und literweise Pimm’s? 30 Tonnen Erdbeeren werden dann in zwei Wochen verzehrt, doch 2020 wurde das Event eines der ersten Corona-Opfer. Im April setzte es schon die erste Absage seit 1945. Der All England Lawn Tennis Club hatte jedoch vorgesorgt. Man war mit über 100 Millionen Pfund gegen Ausfälle ob einer Pandemie versichert. Davon wurden nun zehn Millionen Pfund an 620 verhinderte Teilnehmer ausgezahlt.
Dabei erlebt Tennis seit dem Lockdown den größten Zuspruch seit Jahrzehnten. So wie Golf gehörte es zu den ersten Sportarten, die seit Mai wieder ausgeübt werden durften. Seither sind Kurse wie Plätze auf Wochen ausgebucht, der Highgate Tennis Club zählt mehr „Member“denn je. Ein SportsDirect-Megastore in Kent berichtete, dass Tennisbälle ausverkauft waren.
Auch für Pferderennen läuft der Neustart. Die Zunft der Vierbeiner hat einiges an Image aufzupolieren. Immerhin gilt das Cheltenham-Festival, das Anfang März trotz Bedenken mit 250.000 Zuschauern durchgezogen wurde, als eine „Virus-Superschleuder“. Zwar unter Ausschluss der Öffentlichkeit, aber nichtsdestotrotz fand Mitte Juni das Royal Ascot, das legendärste aller Pferderennen, statt. Erstmals in ihrer 68-jährigen Regentschaft ohne Queen Elizabeth, sie schickte jedoch eine Grußbotschaft. Aber Ascot ist noch viel mehr als nur ein Sportereignis. Damen müssen gewagte Hüte tragen, Männer erscheinen im Frack. Getrunken wird oft bis zum Abwinken. Wer ein echter Aficionado ist, ließ sich auch heuer nicht abhalten: Mit Gartenpartys wurde versucht, ein wenig Rennplatz-Flair nachzustellen.
Ohne Fans muss auch die Formel 1 bei ihrem Silverstone-Doppel (2. und 9. August) das Auslangen finden. Lokalmatador Lewis Hamilton hat sechs Mal den WM-Titel gewonnen, aber nur einmal wählten ihn die Briten zu ihrem Sportler des Jahres. Er wird respektiert. Populär ist er allerdings nicht. Aber die PS-Tradition gebietet auch dieses Race.
Schon davor soll am 31. Juli in Sheffield die World Snooker Championship beginnen, die eigentlich für April geplant war. Bis 16. August soll im Crucible Theatre der Weltmeister ermittelt werden. Während die Veranstalter knallhart auf „The show must go on“ machen, sagten zuletzt vier Chinesen ab. Nach letztem Stand werden nur 16 Spieler den Titel unter sich ausmachen.
Rugby mit Social Distance? Frühestens Ende August soll die seit März ruhende Darts-Meisterschaft zu Ende gespielt werden. Dann erwarten auch RugbyFans ihre Erlösung. Seit Juni dürfen die Spieler wieder Kondition schinden. In kaum einem Sport ist die mögliche Ansteckungsgefahr größer: Mit Social Distancing kann man Rugby eher nicht spielen. Bis Oktober soll die Liga durchgepeitscht, dann noch das Six Nations (EM) gespielt werden.
Trost und Rat findet man vielleicht in der Kontemplation. Fischen wurde im Mai als erster Sport wieder gestattet. Auch darüber hat Orwell geschrieben. In seinem Roman „Coming Up for Air“sagt die Hauptperson: „Es ist mir völlig egal, ob ich noch einmal im Leben einen Cricketball sehe. Aber weiterhin habe ich diese besondere Leidenschaft für das Fischen.“