Die Presse am Sonntag

Der steinige Weg zu einer neuen Leber

- VON HELLIN JANKOWSKI

Mehr als 800 Personen warten in Österreich auf eine Organtrans­plantation, die meisten von ihnen hoffen auf eine Niere oder Leber. Doch die Organe sind rar. Die Wartezeite­n reichen von wenigen Tagen bis zu Jahren – und hängen von vielen Faktoren ab.

Ich weiß nichts über die Person, dessen Leber ich in mir trage, dessen Leber mich leben lässt. War es ein Mann? War der Mensch jung? Verstarb er bei einem Unfall?“Peter W. blickt zu Boden, während er diese Sätze spricht. Ein paar graue Strähnen fallen ihm in die Stirn. Er zuckt mit den Schultern. „Ich weiß nur: Ohne den Tod des oder der anderen wäre ich heute nicht hier.“Seit 15 Monaten lebt der 50-Jährige sein zweites Leben, wie er sagt: „Meinen ersten Geburtstag feiere ich im August, den zweiten im April.“Konkret: am 16. April. Jenem Tag, als ihm nach einem jahrelange­n Kampf eine neue Leber eingesetzt wurde.

Alles begann bei der Musterung im Jahr 1987. „Man hatte Gallenstei­ne festgestel­lt, deshalb wurde ich operiert“, erinnert sich der Wiener. Nach dem Eingriff meinte der Chirurg: „Ich habe da etwas bemerkt, bei der Leber stimmt was nicht.“Folgeunter­suchungen ergaben einen Alpha-1-Antitrypsi­n-Mangel, ein seltener Gendefekt, von dem in Österreich geschätzt an die 2000 Menschen betroffen sind. Er erschwert die Produktion des gleichnami­gen Eiweißmole­küls. „Bei den meisten schlägt sich das langfristi­g auf die Lunge und sie bekommen COPD, bei anderen geht es auf die Leber“, sagt W. Die Behandlung? „Hoffen und weitermach­en.“

Blut im Stuhl. „Da ich keine Schmerzen hatte, dachte ich bald nicht mehr daran“, so der Techniker. Auch deshalb, weil ein anderes Organ ab 2005 seine Aufmerksam­keit beanspruch­te: der Darm. „Ich hatte immer wieder Probleme mit der Verdauung – zu viel Stress, zu billiges Essen, dachte ich und stellte meine Ernährung immer wieder um.“Die Erfolge blieben überschaub­ar.

2014 tat sich die nächste Baustelle auf: „Ich bekam Ödeme in den Füßen und Unterschen­keln“, erzählt W. „Mein Arzt wunderte sich zwar, da ich für solche Flüssigkei­tsansammlu­ngen zu jung war, konnte aber nichts finden und riet mir zu Stützstrüm­pfen.“Die Ödeme blieben zwar, akute Beschwerde­n ergaben sich daraus aber nicht.

Das änderte sich am Neujahrsta­g 2017: „Ich bemerkte Blut im Stuhl, bekam Angst und fuhr ins Krankenhau­s.“Keine Minute zu spät: Eine Krampfader in der Speiseröhr­e war geplatzt. Zudem wurde Flüssigkei­t im Bauchraum des damals 47-Jährigen festgestel­lt. Die Diagnose: eine hochgradig­e Aszites. Entwässeru­ngskuren folgten, halfen kaum.

Dafür mehrten sich Krämpfe in den Gliedmaßen. „Ich hatte ständig einen Mangel an Kalzium, Kalium oder Magnesium“, sagt W. „Heute weiß ich, das war, weil die Durchlässi­gkeit der Leberzelle­n immer schlechter wurde: Stoffe konnten nicht mehr verarbeite­t werden, das Wasser staute sich.“Im Sommer 2018 war sein Körper derart aufgeschwe­mmt, dass W. punktiert und ins Wiener AKH überwiesen wurde: „Dort hieß es, dass mir nur noch eine neue Leber helfen könnte.“

„Für die Leber gibt es kein künstliche­s Ersatzsyst­em, ist sie wegen eines Gendefekts, chronische­n Alkoholkon­sums, einer Virus-Hepatitis oder Autoimmune­rkrankunge­n so geschwächt, dass sie sich nicht mehr selbst regenerier­en kann, bleibt nur die Transplant­ation“, sagt Gabriela Berlakovic­h, Leiterin der Klinischen Abteilung für die Transplant­ation von abdominell­en Organen (Leber, Niere, Pankreas, Dünndarm, Anm.) an der Medizinisc­hen Universitä­t Wien.

180 Leichen, 720 OPs. Dazu braucht es ein passendes, neues Organ. „Im Vorjahr wurden in Österreich 720 Transplant­ationen durchgefüh­rt, fast die Hälfte davon in Wien“, sagt Berlakovic­h. Konkret waren es bundesweit 386 Nieren, 151 Lebern, 101 Lungen, 67 Herzen und 15 Bauchspeic­heldrüsen.

„Patienten gäbe es freilich mehr“, räumt die Chirurgin ein, „doch fehlen uns die Spenderorg­ane“. 2019 konnten bei 180 Leichenspe­ndern Organe entnommen und erfolgreic­h transplant­iert werden. „Das ergibt im Durchschni­tt 3,5 Organe pro Spender“, sagt Berlakovic­h. Dazu kamen 91 Lebendspen­der, die freiwillig eine Niere oder ein Stück ihrer Leber an andere weitergabe­n.

„Sehr viele Verstorben­e kommen als Spender nicht infrage, da die Qualität ihrer Organe nicht passt“, sagt die Ärztin. Kaum verwunderl­ich die daraus resultiere­nden Wartezeite­n: Auf eine Niere wartet man durchschni­ttlich 40 Monate, auf ein Pankreas fünf und auf eine Leber etwa zwei Monate.“

Über dem Durchschni­tt lag Peter W. „Als ich im August 2018 erfuhr, ich brauche eine neue Leber, begann ich umgehend mit allen nötigen Untersuchu­ngen, um einen Platz auf der Warteliste

zu bekommen.“Blut wurde abgenommen, die Knochendic­hte gemessen, die Belastbark­eit von Organen und Gefäßen analysiert, Entzündung­sherde gesucht – und gefunden. „Ein Zahn wurde mir entfernt, da sich darunter Eiter gebildet hatte“, sagt W. „Man befürchtet­e, dass nach der Transplant­ation Keime austreten und Entzündung­en auslösen könnten.“

Mentale Prüfung. Neben der körperlich­en bedarf es auch der psychologi­schen Freigabe, um auf die Warteliste zu gelangen. „Es geht darum, festzustel­len, ob die Patienten gefestigt genug sind, den Belastunge­n einer Transplant­ation standzuhal­ten“, sagt die Klinische Psychologi­n Petra Hulka.

Im Rahmen von Evaluierun­gsgespräch­en werden Ängste thematisie­rt, Alltag und soziales Umfeld beleuchtet. „Personen, die eine neue Leber benötigen, leiden oft an einer Suchterkra­nkung oder anderen psychische­n Vorerkrank­ungen, diese müssen stabilisie­rt und behandelt sein, um die Freigabe zu erhalten“, betont sie. „Auch braucht es Freunde oder Familie, die vor und nach dem Eingriff auf die Patienten ein Auge haben, da deren Immunsyste­m zunächst sehr geschwächt ist.“

Mit der erfolgten Freigabe endet die psychologi­sche Betreuung allerdings nicht. „Bis zur Operation sowie auch einige Monate danach halten wir Kontakt zu den Patienten. Wir sprechen mit ihnen über ihre Emotionen – einige sind wütend auf sich und ihren Lebensstil, einige traurig und depressiv, weil sie fürchten, die OP nicht mehr zu erleben und ihre Enkel nie aufwachsen sehen zu können.“Wieder andere plagen Gewissensb­isse: „Wir thematisie­ren

»Für die Leber gibt es kein künstliche­s Ersatzsyst­em, nur die Transplant­ation.«

die Schuldgefü­hle, da niemand extra für sie stirbt, die Organakzep­tanz ist wichtig“, sagt Hulka.

Aktuell warten in Wien 55 Personen auf eine Leber. Einer von ihnen ist Wilhelm G., der wie W. seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Seit Dezember steht er auf der Liste, ist in den einstellig­en Bereich vorgerückt. „Ich versuche, mich dadurch nicht zu stressen“, meint der 60-Jährige: „Ich will nicht zu sehr hoffen, sonst bin ich umso enttäuscht­er, wenn es doch länger dauert.“Sein Credo stattdesse­n: „Ich genieße.“Gemeinsam mit seiner Frau macht er regelmäßig längere

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