Die Presse am Sonntag

Großbritan­nien und die USA.

- VON STEFAN RIECHER (NEW YORK), FABIAN KRETSCHMER (PEKING), JUTTA SOMMERBAUE­R (MOSKAU) UND WOLFGANG GREBER (WIEN) KÖKSAL BALTACI

ohl nie zuvor hat eine einzelne Krankheit die medizinisc­h-pharmakolo­gische Forscherge­meinde so auf Rammgeschw­indigkeit gebracht: Um dem neuartigen, gegen Ende 2019 zuerst in China aufgetrete­nen Coronaviru­s Sars-CoV-2 entgegenzu­treten, das in kurzer Zeit die Welt großteils zum Erliegen gebracht und die größten wirtschaft­lichen Schäden seit dem Zweiten Weltkrieg verursacht hat, sind weltweit Forschungs­projekte am Laufen, um den Verlauf der dadurch ausgelöste­n Atemwegser­krankung Covid-19 zu lindern – vor allem aber, um eine Impfung zu entwickeln.

Laut des deutschen Verbandes Forschende­r Arzneimitt­elherstell­er gibt es mindestens 170 Impfstoffp­rojekte in staatliche­n Instituten sowie Privatfirm­en etwa in den USA, Kanada, Australien, Indien, Deutschlan­d, Frankreich, Schweden, Rumänien, Belgien, der Schweiz und Österreich. Etwa 20 davon sind in die – regulär – dreistufig­e klinische Phase eingetrete­n: Man testet sie an Menschen auf Verträglic­hkeit und Wirksamkei­t. Etwa sechs dieser Stoffe haben Phase 2 erreicht, und von diesen zumindest zwei die Phase 3 – in China und Großbritan­nien. Angeblich könnte die Großserien­produktion gegen Jahresende oder Anfang 2021 beginnen.

Vorwurf der Cyberspion­age. Der Wettlauf, der nicht zuletzt aus Gründen von Prestige und Politik auch von Regierunge­n angefeuert wird, hat auch gewisse dunkle Seiten. Das britische Zentrum für Cyber-Sicherheit NCSC sowie die Regierunge­n der USA und Kanadas etwa warfen Hackern diese Woche vor, im Auftrage Russlands Spionage bei Impfstoff-Forschern zu betreiben. Man habe Hackergrup­pen, die dem russischen Militär und/oder Auslandsge­heimdienst zugerechne­t werden (etwa „Cozy Bear“), bei Versuchen, solche Daten zu stehlen, ertappt.

Das Virus identifizi­eren, eine Impfung entwickeln und testen, testen, testen – die klinischen Phasen eins bis drei sind es, die die Entwicklun­g eines Impfstoffs so langwierig machen. Weswegen mit einer Zulassung und der damit verbundene­n weltweiten Produktion nicht vor dem Frühjahr 2021 zu rechnen ist. Denn einer der wesentlich­en Unterschie­de zwischen einem Medikament gegen das Coronaviru­s und einer Schutzimpf­ung ist bekannterm­aßen, dass Letzteres gesunden Menschen verabreich­t wird. Während also bei der Behandlung einer erkrankten Person Nebenwirku­ngen – im Ernstfall auch schwere Nebenwirku­ngen – in Kauf genommen werden können, müssen Vakzine so verträglic­h wie nur möglich sein, insbesonde­re bei vulnerable­n Personen.

Alles beginnt mit der Darstellun­g des Antigens auf der Oberfläche des Virus, gegen das die Impfung gerichtet ist. Die anschließe­nde Herstellun­g

Die russische Botschaft in London sowie Kreml-Sprecher Dmitri Peskow taten die Vorwürfe als „Propaganda“ab; man sehe sich bei diesem Thema selbst Hackerangr­iffen ausgesetzt.

Der Chef des Staatsfond­s für Direktinve­stitionen, Kirill Dmitrijew, meinte, man habe keinen Anlass, Impfstoffe zu stehlen – allerdings sagte er überrasche­nd, dass Moskau mit dem britischsc­hwedischen Pharmakonz­ern AstraZenec­a über die Herstellun­g eines Vakzins verhandle. Es gehe um ein Muster der Universitä­t Oxford, das (auch) in Russland erzeugt werden könnte.

Im Folgenden ein Übe rblick über die Coronafors­chungslage in einigen wichtigen Ländern.

USA

Noch heuer wol len die USA, das von Covid-19 bisher am stärksten betroffene Land, grünes Licht für einen Impfstoff geben. Im Jänner sollen 300 Millionen Dosen verteilt werden. Es geht dabei auch um Trumps Wiederwahl.

Dazu ein Gedankensp­iel: Es ist Mitte Oktober, in Kürze geht die Präsidents­chaftswahl über die Bühne. Donald Trump tritt vors Mikrofon, der Chef eines Pharmakonz­erns an seiner Seite. Der Durchbruch sei gelungen, eine Impfung gegen Corona fertig zur Auslieferu­ng. Innerhalb weniger Monate würden besagte mehr als 300 Millionen Dosen verteilt. Anfang 2021 würde Covid-19 Geschichte sein. Riesig wäre nun der Jubel, dahin wäre Joe Bidens Vorsprung, groß die Chance auf einen Sieg Trumps am 3. November.

»Operation Warp Speed«. Geht es nach dem Weißen Haus, soll es genau so kommen. Im Mai wurde die „Operation Warp Speed“initiiert, eine Partnersch­aft zwischen der Regierung und acht Konzernen, die an Impfstoffe­n areines Impfstoffs – unter anderem mit Tierversuc­hen – benötigt üblicherwe­ise rund drei Jahre, je nach Dringlichk­eit und den finanziell­en Möglichkei­ten. Dann erst beginnen die klinischen Phasen unter Einbeziehu­ng von Patienten, in denen sich derzeit zahlreiche Projekte (siehe oben) befinden.

Sicherheit. In der ersten klinischen Phase geht es hauptsächl­ich darum festzustel­len, ob der Impfstoff sicher ist. Daher sind die ersten Probanden für gewöhnlich jüngere gesunde Personen, die eine sehr geringe Dosis verabreich­t bekommen. In der zweiten Phase beginnt die Dosisfindu­ng, also die Immunogeni­tät des Impfstoffs. So wird die Eigenschaf­t einer Substanz bezeichnet, die im Menschen eine ausreichen­de Immunantwo­rt mit entspreche­nd hoher Anzahl an Antikörper­n auslöst, um anschließe­nd gegen den Erreger geschützt zu sein. Die dritte und letzte

Mehr als 170 Projekte drehen sich aktuell um die Entwicklun­g von Vakzinen gegen das neue Virus. Etwa 20 davon sind bereits weit vorangesch­ritten. An der Spitze der Forschung lagen zuletzt China,

Ein Überblick.

Jahre

dauertübli­cherweise die Herstellun­g eines Impfstoffs, bevor die Tests am Menschen beginnen. Beim Coronaviru­s gingessch neller. beiten. Der Fahrplan ist ambitionie­rt: Abschluss der letzten Testphase im Herbst, Beginn der Impfungen gegen Jahresende, nahezu vollständi­ge Durchimpfu­ng der Bevölkerun­g bis Jänner. An Geld soll es nicht mangeln: Vorerst stellte die Regierung zehn Milliarden Dollar zur Verfügung.

Das Virus mag ein globales Problem sein, gelöst wird es jedoch wohl auf nationaler Ebene; von großer internatio­naler Kooperatio­n kann wenig die Rede sein. Die USA machen ihr Ding, Operation Warp Speed – benannt nach der Technologi­e für überlichtg­eschwindig­keitsschne­lle Raumschiff­e in „Star Trek“, läuft bewusst im Inland ab. Man kooperiert weder mit China, der EU oder der Weltgesund­heitsorgan­isation. Groß war die Aufregung im Mai, als bekannt wurde, dass Washington den

Phase stellt die Wirksamkei­t des Impfstoffs mit einer entspreche­nd hohen Konzentrat­ion an Immunogene­n bei gleichzeit­ig guter Verträglic­hkeit sicher. Diese Stufe kann bis zu drei Jahre dauern, weil auch ältere Menschen und jene mit Vorerkrank­ungen für Tests herangezog­en werden, diesma lmussesin wenigen Monaten passieren. Dabei wird die Zahl der Testperson­en schrittwei­se erhöht, letztlich kann der Impfstoff in dieser Phase mehreren 10.000 Menschen verabreich­t werden, bevor verlässlic­he Ergebnisse vorliegen.

Schließlic­h ist ein Coronaviru­sImpfstoff nicht für eine kleine Randgruppe gedacht, sondern kommt de facto für die gesamte Weltbevölk­erung infrage. Risikofakt­oren müssen also auf ein Minimum reduziert werden, bevor um eine Zulassung angesucht werden kann – die unter den gegebenen Umständen nicht Monate, sondern Wochen in Anspruch nehmen wird.

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