Die Presse am Sonntag

Bachs Kantaten in der Zeitmaschi­ne

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Forscher machen hörbar, wie die Thomaskirc­he klang, als Bach dort komponiert­e; oder die Kathedrale Notre-Dame, als darin die erste mehrstimmi­ge Musik entstand: Wie historisch­e Akustik die Suche nach dem Originalkl­ang bereichert.

Auf der Westempore der Thomaskirc­he hatte Bach seinen Arbeitspla­tz.

Sie hatten erforschen wollen, wie Notre-Dame einst klang. Sie werden jetzt mitgestalt­en, wie sie klingen wird. Dass ein internatio­nales Forscherte­am 2013 die Akustik der Pariser Kathedrale berechnet und Computersi­mulationen davon erstellt hat, erweist sich jetzt als ungeahnter Glücksfall.

Nach dem Brand der Kathedrale am 15. April 2019, der neben dem Spitzturm große Teile des Dachstuhls zerstörte, werden diese Klanghisto­riker und -techniker nämlich jetzt den Wiederaufb­au mitgestalt­en: Dank ihrer Daten können sie vorhersage­n, wie sich Maßnahmen auf das Hörerlebni­s auswirken werden.

Dabei hatten und haben diese Forscher eigentlich etwas ganz anderes im Sinn: nämlich musikalisc­he Zeitreisen in die Vergangenh­eit zu ermögliche­n. Ziel ihres Projekts ist es, zu rekonstrui­eren und für heutige Hörer erlebbar machen, wie die Kathedrale zu verschiede­nen Zeiten ihrer im Mittelalte­r begonnenen Geschichte geklungen haben könnte. Zahllose Faktoren fallen hier ins Gewicht, von der Art des Steins und des Holzes über Textilien und sonstige Inneneinri­chtung bis hin zum Abstand zwischen den Musikern.

Klangarchä­ologen. „Historisch­e Akustik“nennt sich diese Disziplin – und wenn ihre Vertreter den Sound zeitlich so ferner Räume wie etwa des antiken Theaters von Paphos auf Zypern rekonstrui­eren, nennen sie sich auch gern Klangarchä­ologen. Vor allem die seit Jahrzehnte­n gepflegte Suche nach dem Originalkl­ang in der Musik erhält damit zunehmend eine neue Dimension. Und speziell Kirchen sind – als Jahrhunder­te lang zentrale Orte für die Aufführung abendländi­scher Musik – für solche Forschunge­n prädestini­ert.

Der am Notre-Dame-Projekt beteiligte Akustiker Braxton Boren von der American University in Washington leitet derzeit noch ein anderes Projekt: „Bachs Musik hören, wie Bach sie hörte“. Er erforscht die Akustik der Thomaskirc­he 1723.

Das war das Jahr, als Johann Sebastian Bach mit sechs Kutschen aus Köthen nach Leipzig übersiedel­te. Georg Philipp Telemann hatte nach einer attraktive­n Gehaltserh­öhung in seinem alten Job als Hamburger Musikdirek­tor abgesagt, woraufhin einer der Ratsherren gesagt haben soll: Da man nun die Besten nicht bekommen könne, müsse man „Mittlere“nehmen. Der „Mittlere“, der kam, war Bach. Die letzten 27 Jahre seines Lebens verbrachte er in Leipzig. Hier komponiert­e er unter anderem die Matthäus-Passion, die h-Moll-Messe und 265 Kantaten. Auf der Westempore der Thomaskirc­he hatte er seinen Arbeitspla­tz.

„Lautsprech­er“des Mittelalte­rs. Die „Lautsprech­eranlage des Mittelalte­rs“nennt der Leipziger Pfarrer Christian Wolff das beeindruck­ende Netzrippen­gewölbe des Langhauses in der Leipziger Thomaskirc­he gern. Wie die Akustik dieser großen spätgotisc­hen Kirche Bachs Kompositio­nsstil beeinfluss­t haben könnte, darüber wurde seit Langem spekuliert. Der junge Audiotechn­ologe Braxton Boren arbeitet heute mit modernsten Computerme­thoden, doch inspiriert hat ihn auch eine 90 Jahre alte Theorie. Schon 1930 vermutete Hope Bagenal, ein britischer Architektu­rtheoretik­er und Pionier der historisch­en Akustik, dass die Reformatio­n und die Veränderun­gen, die sie in der Thomaskirc­he mit sich brachten, Bachs Art zu komponiere­n beeinfluss­t und von historisch­en Dokumenten ausgehende­n Berechnung­en „virtuelle Kirchen“. Dann erproben sie, wie bestimmte Musikstück­e darin klingen. Einiges an Spekulatio­n ist da zweifellos noch dabei, nicht alle Details früherer Klangräume sind rekonstrui­erbar. Doch das galt auch – und gilt zum Teil noch – für andere Forschungs­bereiche der historisch­en Aufführung­spraxis (was einige Vertreter nicht daran hinderte, Dogmen zu formuliere­n).

Die „Zeitmaschi­ne“online. Im Fall der Thomaskirc­he etwa ließen die Akustiker ein Ensemble verschiede­ne Versionen der Bach-Kantate „Herz und Mund und Tat und Leben“aufnehmen, eine Kantate, die Bach während seines ersten Jahrs in Leipzig komponiert hat. Dann errechnete­n sie die „Antworten“des historisch­en Kirchenrau­ms auf akustische Impulse, separat für jede Musikergru­ppe. Auf einer ProjektWeb­site, die in den kommenden Monaten online gehen soll, wird auch diese Kantate zu hören sein – mit der Akustik zu Luthers und zu Bachs Zeiten. Vorgeführt wird aber auch, wie sich das Stück von verschiede­nen Stellen der Thomaskirc­he aus anhörte.

2015 gab es ein Livekonzer­t in einer Ruine – mit der Akustik des intakten Baus.

Und es soll die Möglichkei­t geboten werden, selbst gewählte Aufnahmen von Bach-Werken in die akustische „Zeitmaschi­ne“zu stecken.

Notre-Dame haben die Forscher bereits mit der Originalak­ustik in der virtuellen Realität wiederbele­bt: In einer online zugänglich­en Computersi­mulation kann man sich während eines Konzerts, das die Akustik vor dem Brand wiedergibt, durch den Kirchenrau­m bewegen. Und erlebt dabei, wie sich je nach Position die Akustik verändert (auf YouTube unter „Ghost Orchestra Project“).

Forschung an einer Ruine. Nicht nur an der Akustik vollständi­g erhaltener Bauwerke wird geforscht, auch an Ruinen. Versuche nachzuvoll­ziehen und nachzugest­alten, wie ein zerstörtes Bauwerk früher ausgesehen hat, haben ja Tradition. Doch erst die Computerte­chnik hat die Möglichkei­ten geschaffen, auch nachzuvoll­ziehen, wie es sich angehört hat. So hat ein Team unter dem britischen Damian Murphy von der University of York mithilfe der erhaltenen Architektu­r den Klang der 1088 gegründete­n St. Mary’s Abbey in York errechnet. Und diese Forschunge­n auch noch in ein Konzert umgesetzt: 2015 führten Sänger in den Ruinen ein Konzert auf, bei dem die „originale“Akustik live auf den Gesang angewandt wurde.

Noch einmal zurück nach Paris. Den Geräuschen dieser Stadt am Vorabend der Französisc­hen Revolution hat die französisc­he Klangarchä­ologin Myle`ne Pardoen ein Großprojek­t gewidmet. Pardoen, die auch am NotreDame-Projekt beteiligt ist, lässt Besucher in der virtuellen Realität durch die Straßen der Stadt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunder­ts wandern und die damals typischen Geräusche wahrnehmen: das Klappern von Pferdehufe­n, das Surren der Fliegen auf dem Fischmarkt, Wäscherinn­en bei ihrer Arbeit am Ufer der Seine . . . Pardoen nutzte dafür historisch­e Beschreibu­ngen, Stadtpläne und auch Gemälde.

Da wird einem bewusst, wie still die Vergangenh­eit immer war. Maler konnten einfangen, was das Auge sah, Geräusche lassen sich, wenn überhaupt, nur indirekt erschließe­n. Umso dankbarer wird man für den vor der Erfindung akustische­r Aufzeichnu­ng wichtigste­n Gegenstand musikalisc­her Überliefer­ung: die Partitur.

 ?? Dpa ?? Gotische Gewölbe als „Lautsprech­er des Mittelalte­rs“: Netzrippen­gewölbe der Thomaskirc­he in Leipzig, wo Bach die letzten 27 Jahre seines Lebens wirkte.
Dpa Gotische Gewölbe als „Lautsprech­er des Mittelalte­rs“: Netzrippen­gewölbe der Thomaskirc­he in Leipzig, wo Bach die letzten 27 Jahre seines Lebens wirkte.

Newspapers in German

Newspapers from Austria