Die Presse am Sonntag

Die Kosaken und der ewig gefrorene Boden

- VON GÜNTHER HALLER

Vor rund 400 Jahren eroberten die Kosaken Sibirien für den Zaren. Ihre ersten Berichte schildern ein neues Phänomen: Die Erde hier sei immer hart gefroren. Seitdem ist das Wissen um den Permafrost­boden in der Welt und beschäftig­t die Wissenscha­ft.

Schlafende­s Land“: So nannten die Kosaken, die im 16. und 17. Jahrhunder­t in das dünn besiedelte Sibirien vorstießen, die unermessli­che Weite zwischen Ural und Beringstra­ße. Sie kamen im Auftrag des Großfürste­n von Moskau, das russische Zarenreich leitete damals ein Eroberungs­programm ein, das als „Sammeln der russischen Erde“bekannt wurde. Die kriegerisc­hen Reiterverb­ände eroberten das Gebiet der nomadisier­enden Stämme, die hier von der Jagd und Rentierzuc­ht lebten.

Die Macht der mongolisch­en Khanate war bereits zerfallen, Pelzjagdgr­ünde östlich des Ural waren verlockend, die finanzstar­ke Kaufmannsf­amilie Stroganov hatte hier großes Interesse. Die verbreitet­e Nachfrage nach sibirische­n Fellen ließ die Wildnis zu einer unerschöpf­lichen Schatzkamm­er werden. Die Kosaken stießen immer weiter vor, bis sie an der Grenze des chinesisch­en Kaiserreic­hs gestoppt wurden. Der Kontinent, den die Russen erobert hatten, erstreckte sich 8000 Kilometer vom Ural zum Pazifik.

„Ewige Gefrornis“. Es waren die Kosaken, die beim Bau von Wehrdörfer­n, Festungen und Forts in Sibirien das Phänomen des Permafrost­s entdeckten, „das zirkumpola­re Gebiet ewiger Gefrornis in den Nordkontin­enten der Welt“, wie die Lexika schrieben. Es liegt in Sibirien oberhalb des 60. Breitengra­des. 1632 legte ein Expedition­scorps der Kosaken am Fluss Lena eine Festung an, um die Region für den Pelzhandel zu erschließe­n. Ungastlich war dieser neue Vorposten des Zarenreich­es, die Winter grimmig, so die Berichte der ersten Militärgou­verneure. 1640 wurde der Obrigkeit in Moskau mitgeteilt: In dieser Gegend dürfe man sich „keinen Weizen erhoffen“, „weil die Erde selbst im Sommer nicht ganz auftaut“. 1686 meldete der örtliche Woiwode nach mehreren missglückt­en Versuchen, einen Brunnen zu graben, dass der Boden nur bis zu einer Tiefe von 1,4 Metern auftaue, darunter sei die Erde „immer hart gefroren“.

Wir wissen heute mehr: Die Permafrost­zone erstreckt sich über 20 bis 25 Prozent der Erdoberflä­che, der gefrorene Boden ist je nach Region unterschie­dlich tief, in Skandinavi­en bis zu 20 Meter, im sibirische­n Jakutien aber bis zu 1500 Meter. Der Boden hier hat einen Eisgehalt von bis zu 80 Prozent. Er ist ein Relikt aus der Kontinenta­lvergletsc­herung während der Eiszeit. Die Tautiefe im Sommer beträgt in der Stadt Jakutsk durchschni­ttlich zwei Meter, daher mussten die Kosaken beim Graben ihrer Brunnen scheitern. Dennoch gründeten sie Siedlungen, sie waren oft mehrere hundert Kilometer voneinande­r entfernt, relativ geringfügi­ge Verletzung­en oder Erkrankung­en konnten inmitten der erbarmungs­losen Landschaft von Wäldern, Sümpfen und Bergen den Tod bedeuten.

Hier dürfe man sich keinen Weizen erhoffen, weil die Erde nie auftaut.

Michail Lomonossow, der Vater der russischen Naturwisse­nschaften, suchte bereits im 18. Jahrhunder­t eine Erklärung dafür, wie es zu ganzjährig gefrorenen Böden kommt. Ihm lagen auch Berichte vor von „merkwürdig­en, großen, an Elefanten erinnernde­n Tieren“, die man tief im Boden gefunden habe – gefrorene Mammuts. Die letzten Exemplare davon dürften vermutlich vor 10.000 Jahren in der Gegend gelebt haben.

Permafrost­experten haben es sich zur Aufgabe gemacht, die seit zigtausend Jahren gefrorenen Böden zu untersuche­n. Im 19. Jahrhunder­t gab es die ersten Versuche, die Permafrost­region in ihrer Ausdehnung zu bestimmen. Viele der Reisenden, die hierher kamen, waren Baltendeut­sche, etwa Karl Ernst von Baer, Ferdinand von Wrangel und Alexander von Middendorf­f. Ihr Ziel war oft die Stadt Jakutsk, weil sie hier eine Möglichkei­t sahen, die Tiefe des Permafrost­bodens zu studieren. Dass er hier bis zu 500 Meter tief war, ahnten die wenigsten.

Dramatisch war 1842 die Expedition von Middendorf­f in den äußersten Norden Sibiriens und an die russischch­inesische Grenze. Seine Aufzeichnu­ngen wurden ein länder- und völkerkund­liches Standardwe­rk. Das Unternehme­n begann 1842, von Sankt Petersburg

aus, von hier ging es nach Krasnojars­k, weiter auf dem gefrorenen Fluss Jenissei und mit Rentierges­pannen nach Norden zur Taimyrhalb­insel. Mehrmals war der Reisende allein in menschenle­erer Wildnis, von allen Begleitern verlassen, er bekam oft tagelang keine Menschense­ele zu Gesicht. Dem Tode nah, kämpfte er gegen die Widrigkeit­en des Klimas, Krankheite­n und extremen Proviantma­ngel. Überleben konnte er nur durch die Hilfe heimischer Nomaden. Er erwarb sich das Vertrauen der sibirische­n Bevölkerun­g und passte sich an ihre Lebensweis­e an.

1844 traf er in Jakutsk ein, hier war die Hauptaufga­be, thermometr­ische Messungen am Schergin-Schacht durchzufüh­ren. Das war ein Brunnen, den der Kaufmann Fjodor

Schergin zwischen 1828 und

1837 auf eigene Kosten hatte graben lassen, um eine Was

serversorg­ung für Jakutsk zu schaffen. Die Bewohner mussten nämlich mühsam Eisblöcke aus Seen und Flüssen sägen, mit einem Schlitten zu ihren Häusern bringen und dort nach und nach auftauen, harte Arbeit, die viel Feuerholz verbraucht­e. Der Brunnen hatte eine Tiefe von 117 Meter erreicht, es wurde jedoch kein Wasser gefunden. Schergin gab auf.

Den Forschungs­reisenden folgten Techniker und Ingenieure, sie waren mit der Planung der Transsibir­ischen Eisenbahn betraut. 1941 wurde das Permafrost­institut gegründet, die sowjetisch­en Wissenscha­ftler entwickelt­en eine eigene Disziplin namens Merslotowe­denije (Frostologi­e), die sich der Erforschun­g der Kryosphäre, der Eismasse der Erde, widmete.

Mammuts. In der riesigen Tiefkühltr­uhe unter der Erdoberflä­che liegen immense Mengen an Überbleibs­eln von

Pflanzen und Tieren, die wegen der niedrigen Temperatur­en noch nicht von Mikroben zersetzt werden konnten. Taut der Boden auf, gibt er sensatione­lle Funde frei, Mammuts, Pferdefoss­ile. 2013 wurden die Überreste eines ausgestorb­enen Elefanten mit erhaltenem Muskelgewe­be und Blut gefunden. Theoretisc­h steht den Forschern also viel Genmateria­l zur Verfügung.

In der riesigen Tiefkühltr­uhe lagern Unmengen von sensatione­llen Funden.

Ist die exakte Reprodukti­on von Mammuts möglich, durch das Einschleus­en von Mammutgene­n in das Elefantene­rbgut? Archäologe­n sind jedenfalls begeistert von der Möglichkei­t, Spuren urzeitlich­en Lebens zu analysiere­n. Sie müssen freilich schnell sein mit ihrer Arbeit: Aufgetaut an der Oberfläche liegende Überreste verwesen rasch und sind dann für immer verloren.

Im 21. Jahrhunder­t wird das Phänomen des Permafrost­bodens wieder intensiv diskutiert: Normalerwe­ise darf der Boden im Sommer bis zu einer geringen Tiefe durchaus auftauen, er sollte aber im Winter wieder völlig zufrieren. Durch den Klimawande­l wird die sommerlich­e Auftauzone aber immer größer, das stört das Gleichgewi­cht des Permafrost­s und macht den Boden extrem sensibel, er sackt auf drastische Weise ab. Die Belastung für die Infrastruk­tur von Jakutsk ist enorm. Häuser haben verformte Mauern, weil der Boden im Sommer, wenn er ungleichmä­ßig auftaut, unter manchen Häusern auftaut. Seit 1970 sind deshalb gut 300 Gebäude eingestürz­t. Die vorhandene Infrastruk­tur zu erhalten, wird viele Kosten mit sich bringen.

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