Die Türkisierung Nordsyriens
Schleichend annektiert die Regierung in Ankara Teile des Nachbarlands: mit Truppen und der türkischen Lira.
Täglich rollen lange türkische Militärkonvois über die Grenze nach Syrien. Darunter sind Mannschaftswagen, Panzer, Luftabwehrgeschütze und Radargeräte – all das, was die mächtige Armee des Nato-Mitgliedslands so zu bieten hat. Seit Februar zählte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) etwa 8000 Militärfahrzeuge, die Ankara allein nach Idlib schickte. Die Provinz im Nordwesten Syriens ist die letzte Hochburg der syrischen Opposition, die die Türkei seit Beginn des Bürgerkriegs massiv unterstützt. Das Institut für Study of War schätzte im März die türkische Truppenstärke in
Idlib auf 20.000 Mann in insgesamt 46 Militärbasen. Mittlerweile sind es weit mehr Soldaten und Stützpunkte, über deren genaue Anzahl Ankara jedoch keine Auskunft gibt.
Türkische Soldaten auf einer Brücke der wichtigen syrischen Straße M4.
Die Türkei rüstet nicht nur in Idlib unermüdlich auf. Das tut sie auch in den drei anderen von ihr kontrollierten Gebieten in Syrien, die sie zwischen 2016 und 2019 eroberte. Das sind die Kurdenregion Afrin und der Teil des Aleppo-Gouvernements von Azaz bis Jarablus. Hinzu kommt ein 30 Kilometer tiefer und 150 Kilometer langer Streifen in der kurdischen Autonomiezone im Nordosten Syriens.
Ankara rechtfertigt die Besetzung des Territoriums des Nachbarlandes mit dem „Kampf gegen Terrorismus“. Er richtet sich gegen die kurdische YPG-Miliz in Syrien. Sie hat Verbindungen zur Arbeiterpartei PKK, die seit vier Jahrzehnten um die Rechte der Kurden in der Türkei kämpft und verboten ist. Aber der türkischen Regierung geht es um weit mehr. Der Kampf gegen Terror ist nur ein Vorwand.
Türkische Lehrpläne. Ankara schafft in Nordsyrien vollendete Tatsachen: Eine Annexion auf administrativer und ökonomischer Ebene sowie im Bildungsund Gesundheitswesen ist bereits in vollem Gange. Die türkische Post und türkische Universitäten haben Ableger in Nordsyrien. Kinder lernen in den Schulen Türkisch. Die Lehrpläne stammen vom türkischen Ministerium für Erziehung. Auf den neu renovierten Spitälern weht die türkische Nationalflagge. Die lokale Verwaltung steht unter der Kontrolle der Türkei.
Zuletzt wurde auch die türkische Lira als Zahlungsmittel eingeführt. Als Grund dafür galt der Absturz des syrischen Pfunds auf ein Rekordtief. Für die Türkei war das ein willkommener Anlass. Die Einführung der türkischen Währung ist ein letzter Schritt zur Türkisierung Nordsyriens.
Die Annexion der besetzten Gebiete rechtfertigt Ankara historisch. Nordsyrien sei „Teil des türkischen Heimatlandes“, sagte der türkische Innenminister, Süleyman Soylu, schon 2019. Er bezog sich damit auf eine Entscheidung des letzten Parlaments des Osmanischen Reiches aus dem Jahr 1920. Es sind Großmachtträume vergangener Tage, die die Außenpolitik Ankaras antreiben. In Libyen hat die Türkei zugunsten der international anerkannten Regierung Sarraj interveniert und wird das erdölreiche Land nicht so schnell verlassen. Libyen war eine der letzten Kolonien des Osmanischen Reichs.
Türkische Großmachtträume aus vergangenen Tagen in Syrien und Libyen.
Die türkische Lira als neues Zahlungsmittel hat an der Misere in Nordsyrien bisher wenig geändert. „Ich kenne viele, die Hunger haben“, erzählt Mohammed, ein junger Familienvater aus einem Flüchtlingslager in Idlib an der türkischen Grenze. „Alles ist so unglaublich teuer“, sagt er im Telefongespräch mit der „Presse“. Für ihn und die meisten seiner Bekannten habe sich mit der türkischen Lira wenig geändert. „Man kann damit bezahlen, aber ich habe keine Lira.“
Die sogenannte Heilsregierung Idlibs zahlt die Gehälter ihrer Angestellten und Kämpfer in türkischer Währung aus. Aber alle anderen müssen sich mit dem syrischen Pfund begnügen. „Es ist wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis die Lira das Pfund endgültig ersetzt“, glaubt Mohammed.
Die Heilsregierung Idlibs steht der jihadistischen Hayat Tahrir al-Sham (HTS) nahe. Sie war früher Teil des internationalen Terrornetzwerks von alQaida. Heute herrscht HTS über Idlib. Der Lebensstil ist entsprechend ultrakonservativ in der Provinz.
In den restlichen von der Türkei kontrollierten Gebieten ist es ähnlich. Ankara hat etwa in Afrin die Ordnungsmacht an islamistische Milizen der syrischen Opposition übergeben. Den Kämpfern werden Entführung, Folter und Mord vorgeworfen.