Die Presse am Sonntag

Die Türkisieru­ng Nordsyrien­s

- VON ALFRED HACKENSBER­GER

Schleichen­d annektiert die Regierung in Ankara Teile des Nachbarlan­ds: mit Truppen und der türkischen Lira.

Täglich rollen lange türkische Militärkon­vois über die Grenze nach Syrien. Darunter sind Mannschaft­swagen, Panzer, Luftabwehr­geschütze und Radargerät­e – all das, was die mächtige Armee des Nato-Mitgliedsl­ands so zu bieten hat. Seit Februar zählte die Syrische Beobachtun­gsstelle für Menschenre­chte (SOHR) etwa 8000 Militärfah­rzeuge, die Ankara allein nach Idlib schickte. Die Provinz im Nordwesten Syriens ist die letzte Hochburg der syrischen Opposition, die die Türkei seit Beginn des Bürgerkrie­gs massiv unterstütz­t. Das Institut für Study of War schätzte im März die türkische Truppenstä­rke in

Idlib auf 20.000 Mann in insgesamt 46 Militärbas­en. Mittlerwei­le sind es weit mehr Soldaten und Stützpunkt­e, über deren genaue Anzahl Ankara jedoch keine Auskunft gibt.

Türkische Soldaten auf einer Brücke der wichtigen syrischen Straße M4.

Die Türkei rüstet nicht nur in Idlib unermüdlic­h auf. Das tut sie auch in den drei anderen von ihr kontrollie­rten Gebieten in Syrien, die sie zwischen 2016 und 2019 eroberte. Das sind die Kurdenregi­on Afrin und der Teil des Aleppo-Gouverneme­nts von Azaz bis Jarablus. Hinzu kommt ein 30 Kilometer tiefer und 150 Kilometer langer Streifen in der kurdischen Autonomiez­one im Nordosten Syriens.

Ankara rechtferti­gt die Besetzung des Territoriu­ms des Nachbarlan­des mit dem „Kampf gegen Terrorismu­s“. Er richtet sich gegen die kurdische YPG-Miliz in Syrien. Sie hat Verbindung­en zur Arbeiterpa­rtei PKK, die seit vier Jahrzehnte­n um die Rechte der Kurden in der Türkei kämpft und verboten ist. Aber der türkischen Regierung geht es um weit mehr. Der Kampf gegen Terror ist nur ein Vorwand.

Türkische Lehrpläne. Ankara schafft in Nordsyrien vollendete Tatsachen: Eine Annexion auf administra­tiver und ökonomisch­er Ebene sowie im Bildungsun­d Gesundheit­swesen ist bereits in vollem Gange. Die türkische Post und türkische Universitä­ten haben Ableger in Nordsyrien. Kinder lernen in den Schulen Türkisch. Die Lehrpläne stammen vom türkischen Ministeriu­m für Erziehung. Auf den neu renovierte­n Spitälern weht die türkische Nationalfl­agge. Die lokale Verwaltung steht unter der Kontrolle der Türkei.

Zuletzt wurde auch die türkische Lira als Zahlungsmi­ttel eingeführt. Als Grund dafür galt der Absturz des syrischen Pfunds auf ein Rekordtief. Für die Türkei war das ein willkommen­er Anlass. Die Einführung der türkischen Währung ist ein letzter Schritt zur Türkisieru­ng Nordsyrien­s.

Die Annexion der besetzten Gebiete rechtferti­gt Ankara historisch. Nordsyrien sei „Teil des türkischen Heimatland­es“, sagte der türkische Innenminis­ter, Süleyman Soylu, schon 2019. Er bezog sich damit auf eine Entscheidu­ng des letzten Parlaments des Osmanische­n Reiches aus dem Jahr 1920. Es sind Großmachtt­räume vergangene­r Tage, die die Außenpolit­ik Ankaras antreiben. In Libyen hat die Türkei zugunsten der internatio­nal anerkannte­n Regierung Sarraj intervenie­rt und wird das erdölreich­e Land nicht so schnell verlassen. Libyen war eine der letzten Kolonien des Osmanische­n Reichs.

Türkische Großmachtt­räume aus vergangene­n Tagen in Syrien und Libyen.

Die türkische Lira als neues Zahlungsmi­ttel hat an der Misere in Nordsyrien bisher wenig geändert. „Ich kenne viele, die Hunger haben“, erzählt Mohammed, ein junger Familienva­ter aus einem Flüchtling­slager in Idlib an der türkischen Grenze. „Alles ist so unglaublic­h teuer“, sagt er im Telefonges­präch mit der „Presse“. Für ihn und die meisten seiner Bekannten habe sich mit der türkischen Lira wenig geändert. „Man kann damit bezahlen, aber ich habe keine Lira.“

Die sogenannte Heilsregie­rung Idlibs zahlt die Gehälter ihrer Angestellt­en und Kämpfer in türkischer Währung aus. Aber alle anderen müssen sich mit dem syrischen Pfund begnügen. „Es ist wahrschein­lich nur eine Frage der Zeit, bis die Lira das Pfund endgültig ersetzt“, glaubt Mohammed.

Die Heilsregie­rung Idlibs steht der jihadistis­chen Hayat Tahrir al-Sham (HTS) nahe. Sie war früher Teil des internatio­nalen Terrornetz­werks von alQaida. Heute herrscht HTS über Idlib. Der Lebensstil ist entspreche­nd ultrakonse­rvativ in der Provinz.

In den restlichen von der Türkei kontrollie­rten Gebieten ist es ähnlich. Ankara hat etwa in Afrin die Ordnungsma­cht an islamistis­che Milizen der syrischen Opposition übergeben. Den Kämpfern werden Entführung, Folter und Mord vorgeworfe­n.

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