Die Presse am Sonntag

»Ein Schuldensc­hnitt ist das Normalste auf der Welt«

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

Der bekanntest­e deutschspr­achige Ökonom, Hans-Werner diagnostiz­iert in Ländern wie Italien die »holländisc­he Krankheit« und erwartet, dass die EU Richtung Transferun­ion abdriftet. Einen schönen Ausweg sieht er nicht: »Man kann nur unter den Übeln wählen«. Sicher ist für Sinn: Die EZB handelt »hochgefähr­lich«.

Herr Sinn, ich habe gelesen, Sie haben Geld an Italien gespendet?

Hans-Werner Sinn: Ja, zusammen mit meiner Frau für unsere Verhältnis­se größere Summen an das Rote Kreuz in Italien und an die Außenstell­en verschiede­ner Städte. Nach den Bildern der Leichentra­nsporte musste man ein Zeichen der Solidaritä­t setzen.

Dann gefällt Ihnen doch sicher auch, dass die EU jetzt auch sozusagen Geld spendet, nämlich über einen EU-Wiederaufb­aufonds 390 Milliarden Euro Zuschüsse verteilt? Das finde ich im Prinzip richtig.

Aber?

Für mich ist eine Spende ein freiwillig­er Akt, den jeder Staat für sich setzen kann. Da braucht es keine EU-Koordinati­on. Und falls doch, hätte es den Europäisch­en Stabilität­smechanism­us, den ESM, gegeben. Den wollten Italien und Frankreich aber nicht benutzen, weil Gelder aus dem ESM an

Auflagen geknüpft sind. Aber ich will nicht lamentiere­n. Die Hilfe ist richtig. Wovor ich warne, ist der Irrglaube an ein dauerhafte­s Transfersy­stem, wie es Emmanuel Macron will. Denn wenn der Norden permanent Transfers an den Süden überweist, wäre das für den Süden eher problemati­sch.

Für den Norden wäre die Transferun­ion teuer, aber welches Problem hätte der Süden?

Transfers stützen zwar den Lebensstan­dard, aber dadurch wird ein Problem zementiert, das man als holländisc­he Krankheit bezeichnet. Die Holländer hatten in den Sechzigern Gas gefunden und konnten so ihren Lebensstan­dard steigern, was mit steigenden Löhnen einherging und die Industrie dezimierte. Und ob sie jetzt Ressourcen verkaufen, Geld geschenkt oder Kredite bekommen: Der Effekt ist immer derselbe, es wird ein Lohnniveau gestützt, das keine wirtschaft­liche Basis hat. Die Exportwirt­schaft verliert dabei ihre Wettbewerb­sfähigkeit.

In ihrem neuen Buch schreiben Sie von der „Droge“des billigen Geldes. Das klingt nach viel Misstrauen, dass die Länder diese Gelder auch sinnvoll einsetzen können.

Ich moralisier­e nicht und verurteile niemanden. Es geht um einen ökonomisch­en Mechanismu­s, der in der Literatur belegt ist und sich bei den Ressourcen­ländern von Norwegen bis Venezuela beobachten lässt. Überall wurde die Industrie verdrängt.

Wie kann der italienisc­he Pa

tient dann langfristi­g wieder auf die Beine kommen?

Leider ist es so: Wir haben in Europa ein frappieren­des Problem und alle möglichen Lösungen sind unbefriedi­gend. Es gibt im Leben manchmal solche Situatione­n. Man kann dann nur zwischen den Übeln wählen.

Welche Übel stehen für die angeschlag­enen Staaten wie Italien zur Auswahl? Erstens: Wir schaffen in der Eurozone eine Transferun­ion und stützen damit das überhöhte Lohnniveau, das für die Industrie nicht mehr tragbar ist. Oder die Mittelmeer­union wertet im Euro ab, senkt also die Löhne und Preise. Es ist aber gefährlich, einen solchen Schritt gegen die Gewerkscha­ften durchzuset­zen. Das würde politisch ein Hauen und Stechen geben. Variante drei: Wir inflationi­eren die Länder des Nordens wie Österreich und Deutschlan­d, damit der Süden innerhalb des Euro seine Wettbewerb­sfähigkeit zurückerla­ngt. Das ist aber kaum kompatibel mit dem Maastricht­er Vertrag. Oder wir wählen die Variante, die für Griechenla­nd schon 2011 und 2015 angedacht wurde.

Einen Austritt aus dem Euro?

Temporär. Die Staaten werten also mittels Euro-Ausstieg ab, um ihre Wettbewerb­sfähigkeit wiederherz­ustellen. Aber das ist auch keine schöne Lösung. Man denke nur an die drohende Kapitalflu­cht und daher notwendige Kapitalver­kehrskontr­ollen.

Und wozu raten Sie?

Das müssen die Betroffene­n beurteilen. Ich bin aber keinesfall­s der Meinung, dass es besser wäre, wenn Italien den Euro verlassen würde.

Und womit rechnen Sie?

Man wird wohl schleichen­d in eine Transferun­ion hineinkomm­en, in der die Gefahr besteht, dass der ganze Mittelmeer­raum so aussieht wie heute der italienisc­he Mezzogiorn­o. Dass also die Regionen zwar durch Transfers ihr Lohn- und Wohlstands­niveau halten können, aber zugleich ihre Wettbewerb­sfähigkeit immer weiter verlieren.

Italien drückte schon vor Corona ein gewaltiger Schuldenbe­rg. Wie trägt man den innerhalb des Euro ab?

Ich glaube jedenfalls nicht, dass Italien so ohne Weiteres in der Lage sein wird, seine Schulden zu bedienen. Eine Option ist ein Schuldensc­hnitt zulasten derer, die sich verspekuli­ert haben. Es hat seit dem Krieg global über 180 Schuldensc­hnitte gegeben. Das ist das Normalste auf der Welt.

Italienisc­he Banken halten viele dieser Papiere. Würde nicht sofort das Bankensyst­em kollabiere­n?

Auch die Gläubiger der Banken müssten verzichten, um das zu verhindern. Aber ein erhebliche­r Teil der Papiere liegt auch im Ausland und bei der EZB. Französisc­he Banken und Institutio­nen sind besonders exponiert, viermal so stark wie die deutschen. Jetzt können Sie vielleicht auch verstehen, warum Frankreich so fixiert ist auf Hilfen für den Mittelmeer­raum.

In Deutschlan­d wird gleichfall­s der Eigennutz der Zuschüsse betont. Italien zum Beispiel ist die drittgrößt­e Volkswirts­chaft im Binnenmark­t, der wiederum der größte deutsche Exportmark­t ist.

Das ist ein billiges Scheinargu­ment. Wenn der Steuerzahl­er die Exporte nach Italien selbst bezahlen muss, dann stützt das zwar die Exportindu­strie, aber nicht die deutsche Volkswirts­chaft. Aber nochmal: Ich bin für Hilfen an Italien aus Gründen der Solidaritä­t.

Sie haben stets die gewaltigen Anleihenkä­ufe der EZB kritisiert. Gilt das auch in der Coronakris­e oder ist das viele Gelddrucke­n hier vorübergeh­end gerechtfer­tigt? Zunächst finde ich es sehr richtig, dass sich der Staat in der Krise verschulde­t, damit die Lasten auf mehrere Generation­en verteilt werden und nicht nur diese eine Generation das ganze Corona-Unglück erfährt. Aber es ist falsch und hochgefähr­lich, dass just die EZB diese Papiere kauft und nicht private Anleger. Denn das bedeutet einen Verlust der Kontrolle über das Preisnivea­u.

Sie sehen also die Gefahr einer galoppiere­nden Inflation?

Nicht heute und nicht in der näheren Zukunft. Wir befinden uns seit 2008 in der Liquidität­sfalle. Damit ist gemeint, dass man beliebig viel neues Geld in die Wirtschaft hineindrüc­ken kann: Es wird immer gehortet und nicht ausgegeben. Es gibt also weder eine negative, noch eine positive oder inflationä­re Wirkung, sondern gar keine. Aber wenn die Krise überwunden ist, dann kann aus vielerlei Gründen ein Preisansti­eg einsetzen, der über zwei Prozent hinausgeht und sich dann selbst beschleuni­gt, sodass eine Angst vor der Geldentwer­tung die Menschen erfasst. Diesen Preisansti­eg könnte man nicht mehr bremsen.

Hans-Werner Sinn

ist ein renommiert­er deutscher Ökonom. Der 73-Jährige mit dem markanten Backenbart leitete von 1999 bis 2016 das Münchner ifo-Institut für Wirtschaft­sforschung.

Sinn gilt als fachlich brillant, aber auch als einer, der einen guten Streit genießen kann. Er polarisier­t. Neoliberal­e lieben ihn, Linke weniger. Mit Warnungen vor einem Mindestloh­n und heftiger Kritik am

Euro („ein historisch­er Fehler“) sorgte er für Aufsehen. Sinn beschrieb sich selbst einmal als Ordolibera­len im Sinne Ludwig Erhards. Das war so nicht vorgezeich­net.

Sinn wuchs in einer Arbeiterfa­milie in Brake in NordrheinW­estfalen auf. Sein Vater war Taxifahrer und SPD-Mitglied. Sinn überrascht­e einmal mit der Aussage: „Ich war ein Achtundsec­hziger.“

Der emeritiert­e Hochschulp­rofessor ist in der Pension nicht leiser geworden, sondern Buchschrei­ber und Akteur im Wirtschaft­sbeirat Bayern geblieben.

Am Dienstag erscheint sein neues Buch: „Der Corona-Schock. Wie die Wirtschaft überlebt.“HerderVerl­ag, 224 Seiten, gebunden, 18 Euro.

Interview-Langfassun­g: Sinn u. a. über die Frage, wie schnell sich die Wirtschaft vom Coronascho­ck erholen wird: diepresse.com/ sinn

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria