»Ein Schuldenschnitt ist das Normalste auf der Welt«
Der bekannteste deutschsprachige Ökonom, Hans-Werner diagnostiziert in Ländern wie Italien die »holländische Krankheit« und erwartet, dass die EU Richtung Transferunion abdriftet. Einen schönen Ausweg sieht er nicht: »Man kann nur unter den Übeln wählen«. Sicher ist für Sinn: Die EZB handelt »hochgefährlich«.
Herr Sinn, ich habe gelesen, Sie haben Geld an Italien gespendet?
Hans-Werner Sinn: Ja, zusammen mit meiner Frau für unsere Verhältnisse größere Summen an das Rote Kreuz in Italien und an die Außenstellen verschiedener Städte. Nach den Bildern der Leichentransporte musste man ein Zeichen der Solidarität setzen.
Dann gefällt Ihnen doch sicher auch, dass die EU jetzt auch sozusagen Geld spendet, nämlich über einen EU-Wiederaufbaufonds 390 Milliarden Euro Zuschüsse verteilt? Das finde ich im Prinzip richtig.
Aber?
Für mich ist eine Spende ein freiwilliger Akt, den jeder Staat für sich setzen kann. Da braucht es keine EU-Koordination. Und falls doch, hätte es den Europäischen Stabilitätsmechanismus, den ESM, gegeben. Den wollten Italien und Frankreich aber nicht benutzen, weil Gelder aus dem ESM an
Auflagen geknüpft sind. Aber ich will nicht lamentieren. Die Hilfe ist richtig. Wovor ich warne, ist der Irrglaube an ein dauerhaftes Transfersystem, wie es Emmanuel Macron will. Denn wenn der Norden permanent Transfers an den Süden überweist, wäre das für den Süden eher problematisch.
Für den Norden wäre die Transferunion teuer, aber welches Problem hätte der Süden?
Transfers stützen zwar den Lebensstandard, aber dadurch wird ein Problem zementiert, das man als holländische Krankheit bezeichnet. Die Holländer hatten in den Sechzigern Gas gefunden und konnten so ihren Lebensstandard steigern, was mit steigenden Löhnen einherging und die Industrie dezimierte. Und ob sie jetzt Ressourcen verkaufen, Geld geschenkt oder Kredite bekommen: Der Effekt ist immer derselbe, es wird ein Lohnniveau gestützt, das keine wirtschaftliche Basis hat. Die Exportwirtschaft verliert dabei ihre Wettbewerbsfähigkeit.
In ihrem neuen Buch schreiben Sie von der „Droge“des billigen Geldes. Das klingt nach viel Misstrauen, dass die Länder diese Gelder auch sinnvoll einsetzen können.
Ich moralisiere nicht und verurteile niemanden. Es geht um einen ökonomischen Mechanismus, der in der Literatur belegt ist und sich bei den Ressourcenländern von Norwegen bis Venezuela beobachten lässt. Überall wurde die Industrie verdrängt.
Wie kann der italienische Pa
tient dann langfristig wieder auf die Beine kommen?
Leider ist es so: Wir haben in Europa ein frappierendes Problem und alle möglichen Lösungen sind unbefriedigend. Es gibt im Leben manchmal solche Situationen. Man kann dann nur zwischen den Übeln wählen.
Welche Übel stehen für die angeschlagenen Staaten wie Italien zur Auswahl? Erstens: Wir schaffen in der Eurozone eine Transferunion und stützen damit das überhöhte Lohnniveau, das für die Industrie nicht mehr tragbar ist. Oder die Mittelmeerunion wertet im Euro ab, senkt also die Löhne und Preise. Es ist aber gefährlich, einen solchen Schritt gegen die Gewerkschaften durchzusetzen. Das würde politisch ein Hauen und Stechen geben. Variante drei: Wir inflationieren die Länder des Nordens wie Österreich und Deutschland, damit der Süden innerhalb des Euro seine Wettbewerbsfähigkeit zurückerlangt. Das ist aber kaum kompatibel mit dem Maastrichter Vertrag. Oder wir wählen die Variante, die für Griechenland schon 2011 und 2015 angedacht wurde.
Einen Austritt aus dem Euro?
Temporär. Die Staaten werten also mittels Euro-Ausstieg ab, um ihre Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen. Aber das ist auch keine schöne Lösung. Man denke nur an die drohende Kapitalflucht und daher notwendige Kapitalverkehrskontrollen.
Und wozu raten Sie?
Das müssen die Betroffenen beurteilen. Ich bin aber keinesfalls der Meinung, dass es besser wäre, wenn Italien den Euro verlassen würde.
Und womit rechnen Sie?
Man wird wohl schleichend in eine Transferunion hineinkommen, in der die Gefahr besteht, dass der ganze Mittelmeerraum so aussieht wie heute der italienische Mezzogiorno. Dass also die Regionen zwar durch Transfers ihr Lohn- und Wohlstandsniveau halten können, aber zugleich ihre Wettbewerbsfähigkeit immer weiter verlieren.
Italien drückte schon vor Corona ein gewaltiger Schuldenberg. Wie trägt man den innerhalb des Euro ab?
Ich glaube jedenfalls nicht, dass Italien so ohne Weiteres in der Lage sein wird, seine Schulden zu bedienen. Eine Option ist ein Schuldenschnitt zulasten derer, die sich verspekuliert haben. Es hat seit dem Krieg global über 180 Schuldenschnitte gegeben. Das ist das Normalste auf der Welt.
Italienische Banken halten viele dieser Papiere. Würde nicht sofort das Bankensystem kollabieren?
Auch die Gläubiger der Banken müssten verzichten, um das zu verhindern. Aber ein erheblicher Teil der Papiere liegt auch im Ausland und bei der EZB. Französische Banken und Institutionen sind besonders exponiert, viermal so stark wie die deutschen. Jetzt können Sie vielleicht auch verstehen, warum Frankreich so fixiert ist auf Hilfen für den Mittelmeerraum.
In Deutschland wird gleichfalls der Eigennutz der Zuschüsse betont. Italien zum Beispiel ist die drittgrößte Volkswirtschaft im Binnenmarkt, der wiederum der größte deutsche Exportmarkt ist.
Das ist ein billiges Scheinargument. Wenn der Steuerzahler die Exporte nach Italien selbst bezahlen muss, dann stützt das zwar die Exportindustrie, aber nicht die deutsche Volkswirtschaft. Aber nochmal: Ich bin für Hilfen an Italien aus Gründen der Solidarität.
Sie haben stets die gewaltigen Anleihenkäufe der EZB kritisiert. Gilt das auch in der Coronakrise oder ist das viele Gelddrucken hier vorübergehend gerechtfertigt? Zunächst finde ich es sehr richtig, dass sich der Staat in der Krise verschuldet, damit die Lasten auf mehrere Generationen verteilt werden und nicht nur diese eine Generation das ganze Corona-Unglück erfährt. Aber es ist falsch und hochgefährlich, dass just die EZB diese Papiere kauft und nicht private Anleger. Denn das bedeutet einen Verlust der Kontrolle über das Preisniveau.
Sie sehen also die Gefahr einer galoppierenden Inflation?
Nicht heute und nicht in der näheren Zukunft. Wir befinden uns seit 2008 in der Liquiditätsfalle. Damit ist gemeint, dass man beliebig viel neues Geld in die Wirtschaft hineindrücken kann: Es wird immer gehortet und nicht ausgegeben. Es gibt also weder eine negative, noch eine positive oder inflationäre Wirkung, sondern gar keine. Aber wenn die Krise überwunden ist, dann kann aus vielerlei Gründen ein Preisanstieg einsetzen, der über zwei Prozent hinausgeht und sich dann selbst beschleunigt, sodass eine Angst vor der Geldentwertung die Menschen erfasst. Diesen Preisanstieg könnte man nicht mehr bremsen.
Hans-Werner Sinn
ist ein renommierter deutscher Ökonom. Der 73-Jährige mit dem markanten Backenbart leitete von 1999 bis 2016 das Münchner ifo-Institut für Wirtschaftsforschung.
Sinn gilt als fachlich brillant, aber auch als einer, der einen guten Streit genießen kann. Er polarisiert. Neoliberale lieben ihn, Linke weniger. Mit Warnungen vor einem Mindestlohn und heftiger Kritik am
Euro („ein historischer Fehler“) sorgte er für Aufsehen. Sinn beschrieb sich selbst einmal als Ordoliberalen im Sinne Ludwig Erhards. Das war so nicht vorgezeichnet.
Sinn wuchs in einer Arbeiterfamilie in Brake in NordrheinWestfalen auf. Sein Vater war Taxifahrer und SPD-Mitglied. Sinn überraschte einmal mit der Aussage: „Ich war ein Achtundsechziger.“
Der emeritierte Hochschulprofessor ist in der Pension nicht leiser geworden, sondern Buchschreiber und Akteur im Wirtschaftsbeirat Bayern geblieben.
Am Dienstag erscheint sein neues Buch: „Der Corona-Schock. Wie die Wirtschaft überlebt.“HerderVerlag, 224 Seiten, gebunden, 18 Euro.
Interview-Langfassung: Sinn u. a. über die Frage, wie schnell sich die Wirtschaft vom Coronaschock erholen wird: diepresse.com/ sinn