Die Presse am Sonntag

Kann Italien das neue Griechenla­nd werden?

Die Finanzkris­e bescherte der EU die erste Eurokrise. Nun gibt es Befürchtun­gen, dass Corona eine zweite bringt.

- VON JAKOB ZIRM

Es war ein historisch­er Gipfel, der in der Nacht auf Dienstag zu Ende ging. Nicht nur war er mit mehr als 90 Stunden Verhandlun­gen beinahe der längste Gipfel der Geschichte. Auch der Beschluss, dass die EU 750 Milliarden Euro aufnehmen und als Krisenhilf­e – davon 390 Milliarden als nicht rückzahlba­re Zuschüsse – an die einzelnen Länder weitergebe­n darf, wird die Union wohl dauerhaft verändern.

Besonders profitiere­n wird davon der europäisch­e Coronahots­pot Italien, das 209 Milliarden Euro erhält. 82 Milliarden davon sollen als Zuschüsse fließen, 127 Milliarden jedoch als Kredite. Und auch abseits dieses von der EU bereitgest­ellten Geldes muss Rom derzeit viele neue Schulden aufnehmen, sodass vielfach die Frage gestellt wird: Wenn die Finanzkris­e die Eurokrise in Form von Griechenla­nd gebracht hat, könnte Corona nun eine zweite Eurokrise in Form des wesentlich größeren Italiens bringen?

Die Ausgangsla­ge. 2010, im Jahr in dem die Eurokrise ihren Beginn nahm, hatte Griechenla­nd einen Schuldenst­and von 146,2 Prozent des BIP. Dieser war infolge der Finanzkris­e gegenüber dem Jahr zuvor bereits um fast 20 Prozentpun­kte angestiege­n. In den Jahren darauf erhöhte sich der griechisch­e Schuldenst­and konstant weiter und erreichte 2018 seinen Höchststan­d mit 181,2 Prozent des BIP. Im Vorjahr ging er wieder leicht zurück, heuer soll er laut einer Prognose der EU jedoch mit 196,4 Prozent ein neues Rekordhoch erreichen.

Inwiefern lässt sich nun das Italien des Jahres 2020 mit dem Griechenla­nd aus 2010 vergleiche­n? Zumindest beim Schuldenst­and ist die Situation inzwischen ähnlich bedrohlich. So hatte unser südliches Nachbarlan­d 2010 noch einen Schuldenst­and von 119,2 Prozent. Ein Wert, der zwar ebenfalls deutlich vom Maastricht-Ziel von 60 Prozent entfernt, aber wohl noch auszuhalte­n ist. Während der Eurokrise stieg der Schuldenst­and jedoch bereits auf rund 135 Prozent an. Und während andere EU-Länder die wirtschaft­lich starken vergangene­n fünf Jahre genutzt haben, durch Wachstum und eine etwas sparsamere Politik die Schuldenla­st etwas zu reduzieren, lag Italien auch im Vorjahr noch auf diesem Niveau. Heuer wird sich die Situation durch die Coronakris­e laut EU-Prognose jedoch deutlich verschärfe­n. So erwartet Brüssel einen Anstieg der italienisc­hen Verschuldu­ng auf fast 160 Prozent, und auch 2021 werde die Schuldenqu­ote nur leicht auf 153,6 Prozent des BIP zurückgehe­n.

Der große Unterschie­d zu 2010 sind jedoch die Zinsen, die von den Staaten für ihre Schulden gezahlt werden müssen. So erhöhten sich diese im Fall Griechenla­nds bereits 2010 schnell auf über zehn Prozent, um 2011 und 2012 mit rund 30 Prozent ihren zeitweisen Höchststan­d zu erreichen. Und auch Italien musste in dieser Hochphase der Eurokrise beinahe sieben Prozent Zinsen für die aufgenomme­nen Schulden berappen. Zum Vergleich: Deutschlan­d bezahlte damals lediglich zwischen zwei und drei Prozent an Zinsen für seine Staatsschu­ld.

Hier hat sich das Bild inzwischen jedoch vollkommen gewandelt. Obwohl die Schulden weiter angestiege­n sind, das Risiko einer Überschuld­ung also zugenommen hat, bezahlen sowohl Italien als auch Griechenla­nd zurzeit nur etwas mehr als ein Prozent an Zinsen. Und auch als während des Lockdowns im März die weltweiten Kapitalmär­kte kurz von Panik erfasst wurden und die Aktienkurs­e zum Teil um mehr als 30 Prozent zurückging­en, stiegen die Zinsen nur kurzfristi­g auf etwas über zwei Prozent. Das ist zwar immer noch deutlich mehr als Deutschlan­d aktuell für seine Schulden zahlt – oder besser gesagt erhält. Berlin kann sich nämlich um rund minus 0,4 Prozent verschulde­n. Dennoch ist die größere Schuldenla­st wesentlich leichter verkraftba­r als vor zehn Jahren.

Der Grund dafür sitzt in Frankfurt – in Form der Europäisch­en Zentralban­k. Diese kauft seit einigen Jahren – mit einer kurzen Unterbrech­ung – jeden Monat Staatsanle­ihen im Ausmaß eines zweistelli­gen Milliarden­betrags. Seit 2010 hat sich die Bilanz der Zentralban­k durch dieses Kaufprogra­mm bereits von zwei Billionen Euro auf über vier Billionen Euro verdoppelt. Und die Coronakris­e lässt nicht den Schluss zu, dass sich daran etwas ändern wird. Im Gegenteil: Schon jetzt liegt der Anteil der EZB an sämtlichen ausgegeben­en Staatsanle­ihen bei über einem Viertel. Und laut Schätzunge­n wird bereits Anfang 2021 der Wert von einem Drittel überstiege­n werden. Die Zentralban­k ist damit der wohl wichtigste Gläubiger der Euroländer.

Offiziell erfolgen diese Maßnahmen lediglich, um das Inflations­mandat der EZB zu erfüllen. Denn ihr einziger festgeschr­iebener Auftrag ist, die Inflation bei knapp unter zwei Prozent zu halten. In den vergangene­n Jahren lag dieser Wert meist deutlich darunter, wodurch die Öffnung der Geldschleu­sen argumentie­rt wurde. Und wirklich: Die während der Eurokrise von Kritikern der EZB-Politik befürchtet­e Hyperinfla­tion ist bislang ausgeblieb­en. Bei Produkten des täglichen Lebens ist die Teuerung weitgehend stabil.

Das Geld hat sehr wohl zu einem Preisauftr­ieb geführt – bei Immobilien und Aktien.

Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Denn das Geld hat aufgrund der niedrigen Zinsen sehr wohl zu einem starken Preisauftr­ieb geführt. Allerdings nicht bei verbrauchb­aren Produkten, sondern bei Assets wie Immobilien und Aktien. Hier brachte das vergangene Jahrzehnt vielfach die höchsten Steigerung­en seit Langem, etwa mit einem Plus von 70 Prozent bei den Immobilien­preisen in Wien oder einem Anstieg um etwa 120 Prozent bei dem deutschen Leitindex Dax.

Trotzdem sehen sich die Befürworte­r der Politik des billigen Geldes durch das Ausbleiben einer allgemeine­n Hyperinfla­tion bestätigt. Denn die Eurokrise wurde gelöst und der Preis dafür waren lediglich teurere Wohnungen und wertvoller­e Aktiendepo­ts. Und natürlich die Abschaffun­g der Zinsen. Die trifft jedoch nur die Sparer und belohnt die Schuldner. Und letztere sind vor allem die Staaten.

Demnach ist das Modell auch für die kommenden Jahre tauglich, um zu verhindern, dass Italien wie dereinst Griechenla­nd in eine Schieflage kommt. Dennoch bleibt die Frage, was die langfristi­ge Perspektiv­e ist. Steigt der Anteil der EZB an den Staatsschu­lden irgendwann auf über 50 Prozent? Oder sogar auf über 70? Und wird ein nationaler Schuldenst­and von über 200 Prozent des BIP nicht doch irgendwann zum Problem, auch wenn die EZB die Zinsen niedrig hält?

Das Beantworte­n dieser Fragen wird derzeit von der Politik auf die lange Bank geschoben. Zumindest offiziell. Denn hinter vorgehalte­ner Hand sagen auch Vertreter der heimischen Regierung, dass es gegen Ende dieses Jahrzehnts wahrschein­lich zu einem Schuldensc­hnitt kommen wird, bei dem die von der EZB aufgekauft­en Staatsanle­ihen sich zumindest zum Teil „in Luft auflösen“. Auch wenn das rechtlich – zumindest derzeit – eigentlich gar nicht erlaubt ist.

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Stefan Boness/Visum/picturedes­k.com Hans-Werner Sinn (73) über die fehlende Wettbewerb­sfähigkeit der Industrien des EU-Südens: „Wir haben in Europa ein frappieren­des Problem und alle möglichen Lösungen sind unbefriedi­gend.“

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