Kann Italien das neue Griechenland werden?
Die Finanzkrise bescherte der EU die erste Eurokrise. Nun gibt es Befürchtungen, dass Corona eine zweite bringt.
Es war ein historischer Gipfel, der in der Nacht auf Dienstag zu Ende ging. Nicht nur war er mit mehr als 90 Stunden Verhandlungen beinahe der längste Gipfel der Geschichte. Auch der Beschluss, dass die EU 750 Milliarden Euro aufnehmen und als Krisenhilfe – davon 390 Milliarden als nicht rückzahlbare Zuschüsse – an die einzelnen Länder weitergeben darf, wird die Union wohl dauerhaft verändern.
Besonders profitieren wird davon der europäische Coronahotspot Italien, das 209 Milliarden Euro erhält. 82 Milliarden davon sollen als Zuschüsse fließen, 127 Milliarden jedoch als Kredite. Und auch abseits dieses von der EU bereitgestellten Geldes muss Rom derzeit viele neue Schulden aufnehmen, sodass vielfach die Frage gestellt wird: Wenn die Finanzkrise die Eurokrise in Form von Griechenland gebracht hat, könnte Corona nun eine zweite Eurokrise in Form des wesentlich größeren Italiens bringen?
Die Ausgangslage. 2010, im Jahr in dem die Eurokrise ihren Beginn nahm, hatte Griechenland einen Schuldenstand von 146,2 Prozent des BIP. Dieser war infolge der Finanzkrise gegenüber dem Jahr zuvor bereits um fast 20 Prozentpunkte angestiegen. In den Jahren darauf erhöhte sich der griechische Schuldenstand konstant weiter und erreichte 2018 seinen Höchststand mit 181,2 Prozent des BIP. Im Vorjahr ging er wieder leicht zurück, heuer soll er laut einer Prognose der EU jedoch mit 196,4 Prozent ein neues Rekordhoch erreichen.
Inwiefern lässt sich nun das Italien des Jahres 2020 mit dem Griechenland aus 2010 vergleichen? Zumindest beim Schuldenstand ist die Situation inzwischen ähnlich bedrohlich. So hatte unser südliches Nachbarland 2010 noch einen Schuldenstand von 119,2 Prozent. Ein Wert, der zwar ebenfalls deutlich vom Maastricht-Ziel von 60 Prozent entfernt, aber wohl noch auszuhalten ist. Während der Eurokrise stieg der Schuldenstand jedoch bereits auf rund 135 Prozent an. Und während andere EU-Länder die wirtschaftlich starken vergangenen fünf Jahre genutzt haben, durch Wachstum und eine etwas sparsamere Politik die Schuldenlast etwas zu reduzieren, lag Italien auch im Vorjahr noch auf diesem Niveau. Heuer wird sich die Situation durch die Coronakrise laut EU-Prognose jedoch deutlich verschärfen. So erwartet Brüssel einen Anstieg der italienischen Verschuldung auf fast 160 Prozent, und auch 2021 werde die Schuldenquote nur leicht auf 153,6 Prozent des BIP zurückgehen.
Der große Unterschied zu 2010 sind jedoch die Zinsen, die von den Staaten für ihre Schulden gezahlt werden müssen. So erhöhten sich diese im Fall Griechenlands bereits 2010 schnell auf über zehn Prozent, um 2011 und 2012 mit rund 30 Prozent ihren zeitweisen Höchststand zu erreichen. Und auch Italien musste in dieser Hochphase der Eurokrise beinahe sieben Prozent Zinsen für die aufgenommenen Schulden berappen. Zum Vergleich: Deutschland bezahlte damals lediglich zwischen zwei und drei Prozent an Zinsen für seine Staatsschuld.
Hier hat sich das Bild inzwischen jedoch vollkommen gewandelt. Obwohl die Schulden weiter angestiegen sind, das Risiko einer Überschuldung also zugenommen hat, bezahlen sowohl Italien als auch Griechenland zurzeit nur etwas mehr als ein Prozent an Zinsen. Und auch als während des Lockdowns im März die weltweiten Kapitalmärkte kurz von Panik erfasst wurden und die Aktienkurse zum Teil um mehr als 30 Prozent zurückgingen, stiegen die Zinsen nur kurzfristig auf etwas über zwei Prozent. Das ist zwar immer noch deutlich mehr als Deutschland aktuell für seine Schulden zahlt – oder besser gesagt erhält. Berlin kann sich nämlich um rund minus 0,4 Prozent verschulden. Dennoch ist die größere Schuldenlast wesentlich leichter verkraftbar als vor zehn Jahren.
Der Grund dafür sitzt in Frankfurt – in Form der Europäischen Zentralbank. Diese kauft seit einigen Jahren – mit einer kurzen Unterbrechung – jeden Monat Staatsanleihen im Ausmaß eines zweistelligen Milliardenbetrags. Seit 2010 hat sich die Bilanz der Zentralbank durch dieses Kaufprogramm bereits von zwei Billionen Euro auf über vier Billionen Euro verdoppelt. Und die Coronakrise lässt nicht den Schluss zu, dass sich daran etwas ändern wird. Im Gegenteil: Schon jetzt liegt der Anteil der EZB an sämtlichen ausgegebenen Staatsanleihen bei über einem Viertel. Und laut Schätzungen wird bereits Anfang 2021 der Wert von einem Drittel überstiegen werden. Die Zentralbank ist damit der wohl wichtigste Gläubiger der Euroländer.
Offiziell erfolgen diese Maßnahmen lediglich, um das Inflationsmandat der EZB zu erfüllen. Denn ihr einziger festgeschriebener Auftrag ist, die Inflation bei knapp unter zwei Prozent zu halten. In den vergangenen Jahren lag dieser Wert meist deutlich darunter, wodurch die Öffnung der Geldschleusen argumentiert wurde. Und wirklich: Die während der Eurokrise von Kritikern der EZB-Politik befürchtete Hyperinflation ist bislang ausgeblieben. Bei Produkten des täglichen Lebens ist die Teuerung weitgehend stabil.
Das Geld hat sehr wohl zu einem Preisauftrieb geführt – bei Immobilien und Aktien.
Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Denn das Geld hat aufgrund der niedrigen Zinsen sehr wohl zu einem starken Preisauftrieb geführt. Allerdings nicht bei verbrauchbaren Produkten, sondern bei Assets wie Immobilien und Aktien. Hier brachte das vergangene Jahrzehnt vielfach die höchsten Steigerungen seit Langem, etwa mit einem Plus von 70 Prozent bei den Immobilienpreisen in Wien oder einem Anstieg um etwa 120 Prozent bei dem deutschen Leitindex Dax.
Trotzdem sehen sich die Befürworter der Politik des billigen Geldes durch das Ausbleiben einer allgemeinen Hyperinflation bestätigt. Denn die Eurokrise wurde gelöst und der Preis dafür waren lediglich teurere Wohnungen und wertvollere Aktiendepots. Und natürlich die Abschaffung der Zinsen. Die trifft jedoch nur die Sparer und belohnt die Schuldner. Und letztere sind vor allem die Staaten.
Demnach ist das Modell auch für die kommenden Jahre tauglich, um zu verhindern, dass Italien wie dereinst Griechenland in eine Schieflage kommt. Dennoch bleibt die Frage, was die langfristige Perspektive ist. Steigt der Anteil der EZB an den Staatsschulden irgendwann auf über 50 Prozent? Oder sogar auf über 70? Und wird ein nationaler Schuldenstand von über 200 Prozent des BIP nicht doch irgendwann zum Problem, auch wenn die EZB die Zinsen niedrig hält?
Das Beantworten dieser Fragen wird derzeit von der Politik auf die lange Bank geschoben. Zumindest offiziell. Denn hinter vorgehaltener Hand sagen auch Vertreter der heimischen Regierung, dass es gegen Ende dieses Jahrzehnts wahrscheinlich zu einem Schuldenschnitt kommen wird, bei dem die von der EZB aufgekauften Staatsanleihen sich zumindest zum Teil „in Luft auflösen“. Auch wenn das rechtlich – zumindest derzeit – eigentlich gar nicht erlaubt ist.