US Open: Das große Experiment
Im August soll in New York die Tennistour wieder loslegen. Die große Show wird es nicht, doch der Sportfan ist bescheiden geworden. Ob die US Open über die Bühne gehen, wird auch von anderen Events abhängen.
Mitte April, das Coronavirus hat die Millionenmetropole New York mit voller Wucht erfasst. Täglich sterben in der größten US-Stadt mehr als 500 Menschen an Covid-19. Die Leichenhallen sind überfüllt, überall stehen Kühllastwagen, in denen Tote zwischengelagert werden. Gouverneur Andrew Cuomo sorgt sich, dass nicht genügend Intensivbetten zur Verfügung stehen. In Windeseile lässt er mehrere Notspitäler errichten – eines davon im National Tennis Center in Flushing Meadows. An jenem Ort, an dem Bianca Andreescu und Rafael Nadal im September 2019 ihre Trophäen in Empfang nahmen, kämpfen jetzt Coronapatienten um ihr Leben.
Kaum jemand hätte damals daran gedacht, dass die Tennistour vier Monate später ausgerechnet hier, im New Yorker Stadtteil Queens, ihr großes Comeback feiern wird. Und doch: Auch nach der Absage des eigentlich ab 13. August geplanten Turniers in Washington wollen die Veranstalter in New York an ihrem Turnier-Doppelpack festhalten: Zunächst soll ab 20. August das sonst in Cincinnati abgehaltene Masters steigen. Gefolgt von den US Open, jenem Event, das zu Normalzeiten Zigtausende Fans aus der ganze Welt an die US-Ostküste lockt.
Grand Slam im Corona-Hotspot. Die Entscheidung Washingtons „beeinflusst unsere Pläne in keiner Weise”, verlautete der Verband USTA nach dem Aus für das Turnier in der Hauptstadt. „Wir werden ein sicheres und kontrolliertes Umfeld für alle Involvierten schaffen.“Soll heißen – keine Zuseher. Eine Parallelwelt in einem Hotel nahe dem JFK Flughafen, von dem die Spieler per Sondershuttle zur und von der Tennisanlage gebracht werden. Dazu regelmäßige Tests für alle Beteiligten. Keine Qualifikation. Weniger Linienrichter und Ballkinder. Aber, und das ist der springende Punkt: ein TV-Spektakel, für das Sportsender ESPN keine Kosten und Mühen scheuen will.
New York also. Tatsächlich kehrt in dem Corona-Hotspot von April langsam wieder so etwas wie eine vorsichtige Normalität ein. Klar, praktisch jeder trägt auch im Freien eine Gesichtsmaske und Restaurants dürfen ihre Kunden nur an der frischen Luft bedienen. Aber die Metropole lebt, der Verkehr nimmt zu, Geschäfte haben geöffnet, manche Firmen bitten Mitarbeiter zumindest tageweise wieder in ihre Zentralen in den Wolkenkratzern Manhattans. Die Parks sind voll, auch Tennis
wird wieder mit der üblichen Begeisterung gespielt. Das Coronavirus ist in den Süden weitergezogen, wütet in Florida, Texas, Kalifornien.
Entsprechend haben auch Cuomo und Bürgermeister Bill de Blasio grünes Licht für die US Open geben. Es gibt Sondergenehmigungen für die Einreise, der Sporttross, der aus aller Welt nach New York kommen soll, erspart sich die eigentlich vorgesehene Quarantäne – solang sich die Beteiligten an die Regeln halten. Aber, was geschieht, wenn jemand das Hotel verlässt, ohne Bescheid zu geben? Was, wenn ein Spieler positiv getestet wird? Und was, wenn ausgerechnet rund um den Termin der US Open die Infektionszahlen in der Metropole wieder durch die Decke schießen?
Es muss nicht immer Flushing Meadows sein. Tennis ist in New York allerorts präsent.
Die Tabu-Frage. Man sei für alle Eventualitäten gerüstet, heißt es vonseiten der USTA. Doch hinter den Kulissen ist die Nervosität spürbar. Selbst eine Absage steht nach wie vor im Raum. Wenig hilfreich sind dabei Zwischenfälle wie jener im Zuge der aktuell laufenden World Team Tennis Liga – ein Team-Event, bei dem die besten USSpieler und Spielerinnen gegeneinander antreten. Danielle Collins wurde umgehend disqualifiziert, nachdem die Nummer 51 der Welt das Spielerhotel verlassen hatte, um per Auto zwei Stunden von West Virginia nach Charlottesville in Virginia zu fahren. „Die Regeln waren klar und wurden den Spielern kommuniziert. Ein Verlassen der Anlage war verboten”, sagte Turnierdirektor Carlos Silva.
Die Causa entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Ausgerechnet Collins hatte unlängst den Serben Novak Djokovic´ heftig kritisiert, nachdem dieser bei seinem eigenen Event in Belgrad positiv getestet worden war und seine Teilnahme bei den US Open infrage gestellt hatte. Unter anderem, weil er sich nicht den strengen Vorschriften unterwerfen wollte.
Ob das Grand-Slam-Turnier tatsächlich ab 31. August stattfindet, wird nicht nur vom Erfolg der World Team Liga abhängen. Mit Argusaugen schielen die Organisatoren auf jene Sportevents, die noch vor den US Open wieder anlaufen. „Back to business“lautet vielerorts das Motto: Kommende Woche nimmt die Basketballliga NBA wieder ihren Betrieb auf, ebenso wie die Fußballliga MLS und auch die NHL – wiewohl die Eishockeyspieler nach Kanada ausweichen und in zwei eigens geschaffenen „Hallen-Blasen“in Edmonton und Toronto gegeneinander antreten.
Die Parks im »Big Apple« sind voll, Tennis wird wieder mit Begeisterung gespielt.
Bereits eröffnet wurde vergangene Woche eine verkürzte Baseballsaison mit dem Spiel der New York Yankees in Washington gegen die Nationals. Die MLB gilt als Generalprobe für die gesamte amerikanische Sportwelt, zumal die Spieler nicht festgehalten werden und im ganzen Land frei herumreisen. „Hoffen wir, dass das gut geht”, ließ Silva, der Tennisorganisator des TeamEvents in West Virginia, ausrichten. „Wir müssen unglaublich achtsam sein. Wenn wir alle 100 Dinge richtig machen und dann nur einen Fehler begehen, wackeln alle Veranstaltungen.“
Ob das Experiment der US Open tatsächlich über die Bühne geht, wird sich weisen. Von den Werbeplakaten, die sonst bereits im Juli in New York die Stadt zieren, ist heuer nichts zu sehen. Djokovic´ liebäugelt nun doch mit einer Teilnahme, bei Dominic Thiem weiß man es noch nicht. Roger Federer, Rafael Nadal und Stan Wawrinka haben abgewunken. Bei den Damen wiederum wollen Serena und Venus Williams dabei sein, die Weltranglistenerste Ashleigh Barty hat sich noch nicht festgelegt. Eine große Show wie 2019 werden diese US Open garantiert nicht. Ein TV-Spektakel könnte allemal ins Haus stehen. Besser als nichts. Der Sportfan ist bescheiden geworden.