»Streit alle zehn Minuten ist normal«
Buchautorin und Coach Nicola Schmidt über Eifersucht, Streitereien und Brutalität unter Geschwistern und drei fundamentale Fehler, die Eltern niemals machen sollten.
Wenn sich das zweite Kind ankündigt, steht eine große Veränderung in der Familiensituation an. Wie erklären Eltern das dem werdenden Geschwisterkind am besten? Nicola Schmidt: Das kommt natürlich sehr auf das Alter an. Bei Zwei- bis Dreijährigen sollten wir die Ereignisse immer aus Sicht des Kindes erzählen: Etwa „Du wirst nun großer Bruder“anstatt „Mama und Papa bekommen noch ein Baby.“Dann kann sich das ältere Kind als Teil des Prozesses betrachten. Manche freuen sich über die Neuigkeiten, andere weniger. Wir dürfen aber auch negative Gefühle als Eltern nicht wegschieben, sonst wird die Situation immer schlimmer. Stattdessen sollte man dem Kind die Möglichkeit geben, offen zu sagen: „Ich finde das doof, bald nicht mehr allein zu sein.“
Welcher Altersunterschied und welche Geschlechterverteilung gelten denn als besonders „riskant“für Rivalitäten unter Geschwistern?
Rein statistisch gesehen gilt ein Altersunterschied von unter drei Jahren als extrem konfliktträchtig, und zwei Buben streiten mehr als zwei Mädchen. In Wahrheit aber kommt es sehr auf das Temperament der Kinder an. Darauf haben wir als Eltern keinen Einfluss. Die Frage ist: Wie passen die Temperamente meiner Kinder zusammen? Buben fechten ihre Streitereien zudem körperlicher aus als Mädchen.
Was können Eltern tun, wenn die Eifersucht groß ist?
Zuallererst: Hilfe suchen. Das nimmt schon einmal viel Druck raus, denn wir sind nicht dafür gemacht, allein zwei oder mehr Kleinkinder zu betreuen.
Um dem größeren Kind die Situation zu erleichtern, können wir ihm immer wieder Verständnis entgegenbringen und sagen: „Ich weiß, dass ich momentan nicht so viel Zeit habe, aber du wirst immer mein erstes Kind sein“anstatt es in die Rolle des Vernünftigeren zu drängen, weil es ja „schon groß“sei. Das menschliche Gehirn ist erst mit 20 Jahren ausgewachsen!
Wann muss man als Elternteil bei einem Streit unter Geschwistern überhaupt eingreifen?
Sofort, wenn jemand körperlich oder seelisch verletzt wird, also etwa ein Kind das andere beleidigt. Bei kleineren Kindern ist die Empathiefähigkeit ohnehin noch zu gering, um länger ohne Konflikt miteinander zu spielen. Ein Streit alle zehn Minuten ist völlig normal.
Aber wenn die Kinder richtig brutal aufeinander losgehen, sich kratzen, beißen, stoßen – muss man sich da keine Sorgen machen?
Das ist im Vorschulalter total normal. Kinder unter sechs Jahren sind wie Schimpansen, ihre Empathiefähigkeit ist nicht ausreichend ausgeprägt. Die Brutalität ist ihrem MenschenaffenGehirn geschuldet, das eine Rangordnung herstellen will. Bis zur Volksschule sollten die Kinder aber gelernt haben, sich nicht mehr über Körperlichkeit auszudrücken. Wir können ihre Empathie anregen, indem wir sagen: „Wenn du deine kleine Schwester haust, dann weint sie, und wir können nicht weiterspielen.“Dann bieten wir eine soziale Alternative an: „Wenn du nicht willst, dass dein Bruder mitspielt, sag es mir, und wir finden eine Lösung.“
Bringen Sie Ihren Schimpansen bei, zum Homo sapiens zu werden.
Was sind Fehler, die man bei der Erziehung von Geschwisterkindern unbedingt vermeiden sollte?
Zum Ersten dürfen wir uns nicht zum Schiedsrichter machen. Das ist auch gar nicht unsere Rolle, wir sind Mediatoren. Ich sage zu meinen Kindern gern: „Wir sind nicht vor Gericht – mich interessiert nicht, wer angefangen hat, sondern nur, wie wir weiterhin einen schönen, harmonischen Tag haben können.“Außerdem: Vergleichen Sie die Kinder nicht, denn der Vergleich ist das Ende vom Glück. Dabei passiert das so schnell. Wie oft hört man von Eltern Dinge wie: „Sieh mal, dein Bruder kann die Schuhe schon allein anziehen, du aber noch nicht.“So züchten Sie eine lebenslange Rivalität, die die Kinder noch in ihrer Entwicklung behindert, wenn Sie schon lang tot sind. Und drittens: Rasten Sie nie aus, gehen Sie lieber aus dem Raum und schreien Sie den Badezimmerspiegel an. Denn wenn Sie die Kontrolle verlieren, lernen die Kinder das. Ich weiß, es ist viel verlangt und gelingt in der Realität natürlich nicht immer. Aber es wäre besser.
Nicola Schmidt ist zweifache Mutter, Autorin (u. a. „Geschwister als Team“, „Erziehen ohne Schimpfen“), DiplomPolitologin, Wissenschaftsjournalistin, Coach und Gründerin des Projekts „Artgerecht“für bindungsorientierte Elternschaft (nicolaschmidt.de).