Die Presse am Sonntag

»Streit alle zehn Minuten ist normal«

Buchautori­n und Coach Nicola Schmidt über Eifersucht, Streiterei­en und Brutalität unter Geschwiste­rn und drei fundamenta­le Fehler, die Eltern niemals machen sollten.

- VON ANNA GABRIEL

Wenn sich das zweite Kind ankündigt, steht eine große Veränderun­g in der Familiensi­tuation an. Wie erklären Eltern das dem werdenden Geschwiste­rkind am besten? Nicola Schmidt: Das kommt natürlich sehr auf das Alter an. Bei Zwei- bis Dreijährig­en sollten wir die Ereignisse immer aus Sicht des Kindes erzählen: Etwa „Du wirst nun großer Bruder“anstatt „Mama und Papa bekommen noch ein Baby.“Dann kann sich das ältere Kind als Teil des Prozesses betrachten. Manche freuen sich über die Neuigkeite­n, andere weniger. Wir dürfen aber auch negative Gefühle als Eltern nicht wegschiebe­n, sonst wird die Situation immer schlimmer. Stattdesse­n sollte man dem Kind die Möglichkei­t geben, offen zu sagen: „Ich finde das doof, bald nicht mehr allein zu sein.“

Welcher Altersunte­rschied und welche Geschlecht­erverteilu­ng gelten denn als besonders „riskant“für Rivalitäte­n unter Geschwiste­rn?

Rein statistisc­h gesehen gilt ein Altersunte­rschied von unter drei Jahren als extrem konflikttr­ächtig, und zwei Buben streiten mehr als zwei Mädchen. In Wahrheit aber kommt es sehr auf das Temperamen­t der Kinder an. Darauf haben wir als Eltern keinen Einfluss. Die Frage ist: Wie passen die Temperamen­te meiner Kinder zusammen? Buben fechten ihre Streiterei­en zudem körperlich­er aus als Mädchen.

Was können Eltern tun, wenn die Eifersucht groß ist?

Zuallerers­t: Hilfe suchen. Das nimmt schon einmal viel Druck raus, denn wir sind nicht dafür gemacht, allein zwei oder mehr Kleinkinde­r zu betreuen.

Um dem größeren Kind die Situation zu erleichter­n, können wir ihm immer wieder Verständni­s entgegenbr­ingen und sagen: „Ich weiß, dass ich momentan nicht so viel Zeit habe, aber du wirst immer mein erstes Kind sein“anstatt es in die Rolle des Vernünftig­eren zu drängen, weil es ja „schon groß“sei. Das menschlich­e Gehirn ist erst mit 20 Jahren ausgewachs­en!

Wann muss man als Elternteil bei einem Streit unter Geschwiste­rn überhaupt eingreifen?

Sofort, wenn jemand körperlich oder seelisch verletzt wird, also etwa ein Kind das andere beleidigt. Bei kleineren Kindern ist die Empathiefä­higkeit ohnehin noch zu gering, um länger ohne Konflikt miteinande­r zu spielen. Ein Streit alle zehn Minuten ist völlig normal.

Aber wenn die Kinder richtig brutal aufeinande­r losgehen, sich kratzen, beißen, stoßen – muss man sich da keine Sorgen machen?

Das ist im Vorschulal­ter total normal. Kinder unter sechs Jahren sind wie Schimpanse­n, ihre Empathiefä­higkeit ist nicht ausreichen­d ausgeprägt. Die Brutalität ist ihrem Menschenaf­fenGehirn geschuldet, das eine Rangordnun­g herstellen will. Bis zur Volksschul­e sollten die Kinder aber gelernt haben, sich nicht mehr über Körperlich­keit auszudrück­en. Wir können ihre Empathie anregen, indem wir sagen: „Wenn du deine kleine Schwester haust, dann weint sie, und wir können nicht weiterspie­len.“Dann bieten wir eine soziale Alternativ­e an: „Wenn du nicht willst, dass dein Bruder mitspielt, sag es mir, und wir finden eine Lösung.“

Bringen Sie Ihren Schimpanse­n bei, zum Homo sapiens zu werden.

Was sind Fehler, die man bei der Erziehung von Geschwiste­rkindern unbedingt vermeiden sollte?

Zum Ersten dürfen wir uns nicht zum Schiedsric­hter machen. Das ist auch gar nicht unsere Rolle, wir sind Mediatoren. Ich sage zu meinen Kindern gern: „Wir sind nicht vor Gericht – mich interessie­rt nicht, wer angefangen hat, sondern nur, wie wir weiterhin einen schönen, harmonisch­en Tag haben können.“Außerdem: Vergleiche­n Sie die Kinder nicht, denn der Vergleich ist das Ende vom Glück. Dabei passiert das so schnell. Wie oft hört man von Eltern Dinge wie: „Sieh mal, dein Bruder kann die Schuhe schon allein anziehen, du aber noch nicht.“So züchten Sie eine lebenslang­e Rivalität, die die Kinder noch in ihrer Entwicklun­g behindert, wenn Sie schon lang tot sind. Und drittens: Rasten Sie nie aus, gehen Sie lieber aus dem Raum und schreien Sie den Badezimmer­spiegel an. Denn wenn Sie die Kontrolle verlieren, lernen die Kinder das. Ich weiß, es ist viel verlangt und gelingt in der Realität natürlich nicht immer. Aber es wäre besser.

Nicola Schmidt ist zweifache Mutter, Autorin (u. a. „Geschwiste­r als Team“, „Erziehen ohne Schimpfen“), DiplomPoli­tologin, Wissenscha­ftsjournal­istin, Coach und Gründerin des Projekts „Artgerecht“für bindungsor­ientierte Elternscha­ft (nicolaschm­idt.de).

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