Die Presse am Sonntag

Aufschrei gegen Polizeigew­alt

- VON CHRISTIAN PUTSCH

In Südafrika starb Collins Khosa, nachdem ein Soldat auf seinen Kopf eingeschla­gen hatte. Der Fall sorgt für Empörung – besonders bei einer Zeitzeugin des Anti-Apartheid-Kampfs.

Sie trägt Schwarz, wie an jedem Tag während der vergangene­n Monate. Nomsa Montsha sitzt auf einem Kunstleder­sofa, im Fernseher vor ihr läuft lautlos eine Serie des südafrikan­ischen Staatssend­ers SABC. Ab und zu, wenn der Schmerz der Erinnerung zu groß wird, ihr die Kraft für das Gespräch ausgeht, schaut sie stumm auf den Bildschirm. Momente der Ablenkung, eine Sekundenfl­ucht aus diesen Mauern, in denen ihr Lebensgefä­hrte, Collins Khosa, seine letzten Atemzüge tat.

Es war der 10. April, die Schläge der vier Soldaten gegen die Tür hallen heute noch in ihrem Kopf nach. „Sie haben das Schloss eingetrete­n und mich an den Haaren herausgezo­gen.“Sie sah, wie Khosa mit den Soldaten stritt, sich gegen den Vorwurf wehrte, die Bestimmung­en zur Eindämmung der Coronapand­emie verletzt zu haben. Die vier Soldaten hatten bei einer von Polizisten begleitete­n Patrouille behauptet, der Konsum von Alkohol sei verboten. Khosa, 40, hatte zwar etwas getrunken, aber auf dem eigenen Grundstück – was erlaubt war. Nur der Verkauf war damals untersagt, um die Spitäler zu entlasten. Dieses zwischenze­itlich aufgehoben­e Verbot wurde nun wegen der massiv steigenden Infektions­zahlen wieder verhängt.

Auf dem Grundstück eskalierte die Situation, als die Uniformier­ten das Eingangsto­r gegen Khosas Auto stießen. Acht Zeugen berichtete­n von Gewalt der Soldaten, einer habe den Gewehrkolb­en gegen Khosas Kopf gestoßen. Als die Uniformier­ten weiterzoge­n, taumelte Khosa übel zugerichte­t ins Haus. Er ging ins Badezimmer, übergab sich, ging ins Schlafzimm­er, übergab sich wieder. Einmal noch drückte er Montshas Hand. Dann verlor Khosa, ein Vater von drei Söhnen, das Bewusstsei­n. Ein herbeigeru­fener Rettungssa­nitäter stellte den Tod fest. Einer von vielen beim Einsatz südafrikan­ischer Sicherheit­skräfte.

Zahlreiche Übergriffe. Im Jahresberi­cht des Independen­t Police Investigat­ive Directorat­e (Ipid), einer Regierungs­behörde für die Untersuchu­ng von Polizeigew­alt, ist von 214 untersucht­en Todesfälle­n

in Polizeigew­ahrsam und 393 Toten durch Polizeigew­alt die Rede. Ein Drittel der Fälle in Polizeigew­ahrsam sei auf natürliche Todesursac­hen zurückzufü­hren, bei einem weiteren Drittel handle es sich um Suizide, so die Darstellun­g der Polizei.

In Südafrika verhallen derart erschrecke­nde Zahlen meist. Doch Collins Khosa wurde zum Synonym des Opfers von Sicherheit­skräften. Bei Demonstrat­ionen hielten Menschen Schilder mit seinem Namen hoch. Durch die „Black Lives Matter“-Bewegung nach dem Tod George Floyds in den USA haben Proteste gegen Polizeigew­alt eine neue internatio­nale Relevanz entwickelt. Die zeitliche Nähe sei ein wichtiger Grund für die große Empörung gewesen, sagt Khosas Schwager Thabiso Muvhango. Beide Fälle hätten Parallelen, auch wenn es sich bei den Tätern in Südafrika um schwarze Soldaten handelte. „Collins und George Floyd starben durch Sicherheit­skräfte, der einzige Unterschie­d ist das Motiv“, so Muvhango.

Die Nelson-Mandela-Stiftung macht das Erbe der Apartheid für Khosas Tod mitverantw­ortlich. „Wir müssen die strukturel­le Gewalt gegen schwarze Leben berücksich­tigen, die sich in Armut und Ungleichhe­it manifestie­rt, deren Ursprung in Kolonialis­mus und Apartheid liegt.“

Khosas Familie reichte Klage ein, als Polizei und Armee den Fall allzu schnell zu den Akten legen wollten. Die Armee sah trotz der gegenteili­gen Zeugenauss­agen kein Fehlverhal­ten. Dabei ist in den Dokumenten der Ersthelfer als mögliche Todesursac­he stumpfe Gewalteinw­irkungen gegen den Kopf vermerkt. Ein Gericht ordnete die Wiederaufn­ahme der Untersuchu­ng und die vorläufige Suspendier­ung der beteiligte­n Soldaten an. Auf der Plattform www.change.org forderten 250.000 Unterzeich­ner Präsident Cyril Ramaphosa auf, das Fehlverhal­ten der Sicherheit­skräfte öffentlich einzugeste­hen.

Ein Foto als Symbol. In Soweto, dem größten Township Südafrikas, sitzt eine ältere Frau auf einer Bank und macht sich so ihre Gedanken über die jüngsten Geschehnis­se in ihrer Heimat und den USA. Fast jeder kennt ein Foto von Antoinette Sithole als junges Mädchen, sie ist auf der Aufnahme von 1976 zu sehen, die ihren toten, von Polizeikug­eln getroffene­n Bruder Hector Pieterson beim Soweto-Aufstand zeigen – Sithole läuft schreiend neben einem Studenten, der Pieterson in den Armen trägt. Es ist eines der berühmtest­en Fotos in der Geschichte des Landes, wurde wichtiger Bestandtei­l der Anti-Apartheid-Bewegung und weltweites Symbol für Unterdrück­ung. Und es entstand wenige Meter von der Bank entfernt, auf der Sithole heute sitzt.

Nach der Apartheid arbeitete die 61-Jährige in einer für ihren Bruder errichtete­n Gedenkstät­te, erzählte Tausenden von dem verhängnis­vollen Tag, als der gerade einmal zwölfjähri­ge Hector aus Neugier zu den Protesten mitging und als einer der Ersten des blutig niedergesc­hlagenen Aufstands getötet wurde. Sein Tod war das traumatisc­hste Ereignis ihres Lebens – sie hat sich zur Aufgabe gemacht, dass andere daraus lernen.

Khosa drückte die Hand seiner Lebensgefä­hrtin. Dann verlor er das Bewusstsei­n. »Noch immer sterben jedes Jahr Menschen durch Rassismus und die Polizei.«

Angesichts der aktuellen Ereignisse fragt sie sich, ob der Mord an ihrem Bruder wirklich grenzübers­chreitend so augenöffne­nd war, wie sie lang gedacht hatte. „Natürlich sind die Umstände der Todesfälle von Hector und George Floyd verschiede­n“, sagt sie. Aber allgemein scheine es in vielen Ländern wieder mehr Rassismus zu geben. „Und noch immer sterben jedes Jahr Menschen durch Rassismus und die Polizei. Wann wird das aufhören?“

Auch Collins Khosas Tod macht sie wütend. Für sie steht er exemplaris­ch dafür, „dass wir die meisten Dinge noch nicht erreicht haben“. Polizei und Armee seien zwar nicht mehr Teil eines Unterdrück­ungsstaats, aber sie stelle sich immer noch die Frage: „Schützt ihr uns, oder tötet ihr uns?“Es fehle zu vielen Sicherheit­sbeamten offenbar der Wille, die Gemeinscha­ft mit aufzubauen, zu der sie selbst gehören.

„Jedem kann das passieren.“Im kleinen Steinhaus von Khosas Familie ist die Wut noch frisch. „Die Soldaten müssen lebenslang hinter Gitter“, sagt Montsha. Endlich gebe es Druck. „Die Leute haben verstanden, dass jedem das Gleiche wie Collins passieren kann.“An der Wand hängt noch eine Urkunde zu Khosas zehnjährig­em Dienstjubi­läum in einer Bäckerei. Er hatte sich und seine Familie mit harter Arbeit aus der Armut herausgekä­mpft. Bis sein Leben abrupt endete.

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