Aufschrei gegen Polizeigewalt
In Südafrika starb Collins Khosa, nachdem ein Soldat auf seinen Kopf eingeschlagen hatte. Der Fall sorgt für Empörung – besonders bei einer Zeitzeugin des Anti-Apartheid-Kampfs.
Sie trägt Schwarz, wie an jedem Tag während der vergangenen Monate. Nomsa Montsha sitzt auf einem Kunstledersofa, im Fernseher vor ihr läuft lautlos eine Serie des südafrikanischen Staatssenders SABC. Ab und zu, wenn der Schmerz der Erinnerung zu groß wird, ihr die Kraft für das Gespräch ausgeht, schaut sie stumm auf den Bildschirm. Momente der Ablenkung, eine Sekundenflucht aus diesen Mauern, in denen ihr Lebensgefährte, Collins Khosa, seine letzten Atemzüge tat.
Es war der 10. April, die Schläge der vier Soldaten gegen die Tür hallen heute noch in ihrem Kopf nach. „Sie haben das Schloss eingetreten und mich an den Haaren herausgezogen.“Sie sah, wie Khosa mit den Soldaten stritt, sich gegen den Vorwurf wehrte, die Bestimmungen zur Eindämmung der Coronapandemie verletzt zu haben. Die vier Soldaten hatten bei einer von Polizisten begleiteten Patrouille behauptet, der Konsum von Alkohol sei verboten. Khosa, 40, hatte zwar etwas getrunken, aber auf dem eigenen Grundstück – was erlaubt war. Nur der Verkauf war damals untersagt, um die Spitäler zu entlasten. Dieses zwischenzeitlich aufgehobene Verbot wurde nun wegen der massiv steigenden Infektionszahlen wieder verhängt.
Auf dem Grundstück eskalierte die Situation, als die Uniformierten das Eingangstor gegen Khosas Auto stießen. Acht Zeugen berichteten von Gewalt der Soldaten, einer habe den Gewehrkolben gegen Khosas Kopf gestoßen. Als die Uniformierten weiterzogen, taumelte Khosa übel zugerichtet ins Haus. Er ging ins Badezimmer, übergab sich, ging ins Schlafzimmer, übergab sich wieder. Einmal noch drückte er Montshas Hand. Dann verlor Khosa, ein Vater von drei Söhnen, das Bewusstsein. Ein herbeigerufener Rettungssanitäter stellte den Tod fest. Einer von vielen beim Einsatz südafrikanischer Sicherheitskräfte.
Zahlreiche Übergriffe. Im Jahresbericht des Independent Police Investigative Directorate (Ipid), einer Regierungsbehörde für die Untersuchung von Polizeigewalt, ist von 214 untersuchten Todesfällen
in Polizeigewahrsam und 393 Toten durch Polizeigewalt die Rede. Ein Drittel der Fälle in Polizeigewahrsam sei auf natürliche Todesursachen zurückzuführen, bei einem weiteren Drittel handle es sich um Suizide, so die Darstellung der Polizei.
In Südafrika verhallen derart erschreckende Zahlen meist. Doch Collins Khosa wurde zum Synonym des Opfers von Sicherheitskräften. Bei Demonstrationen hielten Menschen Schilder mit seinem Namen hoch. Durch die „Black Lives Matter“-Bewegung nach dem Tod George Floyds in den USA haben Proteste gegen Polizeigewalt eine neue internationale Relevanz entwickelt. Die zeitliche Nähe sei ein wichtiger Grund für die große Empörung gewesen, sagt Khosas Schwager Thabiso Muvhango. Beide Fälle hätten Parallelen, auch wenn es sich bei den Tätern in Südafrika um schwarze Soldaten handelte. „Collins und George Floyd starben durch Sicherheitskräfte, der einzige Unterschied ist das Motiv“, so Muvhango.
Die Nelson-Mandela-Stiftung macht das Erbe der Apartheid für Khosas Tod mitverantwortlich. „Wir müssen die strukturelle Gewalt gegen schwarze Leben berücksichtigen, die sich in Armut und Ungleichheit manifestiert, deren Ursprung in Kolonialismus und Apartheid liegt.“
Khosas Familie reichte Klage ein, als Polizei und Armee den Fall allzu schnell zu den Akten legen wollten. Die Armee sah trotz der gegenteiligen Zeugenaussagen kein Fehlverhalten. Dabei ist in den Dokumenten der Ersthelfer als mögliche Todesursache stumpfe Gewalteinwirkungen gegen den Kopf vermerkt. Ein Gericht ordnete die Wiederaufnahme der Untersuchung und die vorläufige Suspendierung der beteiligten Soldaten an. Auf der Plattform www.change.org forderten 250.000 Unterzeichner Präsident Cyril Ramaphosa auf, das Fehlverhalten der Sicherheitskräfte öffentlich einzugestehen.
Ein Foto als Symbol. In Soweto, dem größten Township Südafrikas, sitzt eine ältere Frau auf einer Bank und macht sich so ihre Gedanken über die jüngsten Geschehnisse in ihrer Heimat und den USA. Fast jeder kennt ein Foto von Antoinette Sithole als junges Mädchen, sie ist auf der Aufnahme von 1976 zu sehen, die ihren toten, von Polizeikugeln getroffenen Bruder Hector Pieterson beim Soweto-Aufstand zeigen – Sithole läuft schreiend neben einem Studenten, der Pieterson in den Armen trägt. Es ist eines der berühmtesten Fotos in der Geschichte des Landes, wurde wichtiger Bestandteil der Anti-Apartheid-Bewegung und weltweites Symbol für Unterdrückung. Und es entstand wenige Meter von der Bank entfernt, auf der Sithole heute sitzt.
Nach der Apartheid arbeitete die 61-Jährige in einer für ihren Bruder errichteten Gedenkstätte, erzählte Tausenden von dem verhängnisvollen Tag, als der gerade einmal zwölfjährige Hector aus Neugier zu den Protesten mitging und als einer der Ersten des blutig niedergeschlagenen Aufstands getötet wurde. Sein Tod war das traumatischste Ereignis ihres Lebens – sie hat sich zur Aufgabe gemacht, dass andere daraus lernen.
Khosa drückte die Hand seiner Lebensgefährtin. Dann verlor er das Bewusstsein. »Noch immer sterben jedes Jahr Menschen durch Rassismus und die Polizei.«
Angesichts der aktuellen Ereignisse fragt sie sich, ob der Mord an ihrem Bruder wirklich grenzüberschreitend so augenöffnend war, wie sie lang gedacht hatte. „Natürlich sind die Umstände der Todesfälle von Hector und George Floyd verschieden“, sagt sie. Aber allgemein scheine es in vielen Ländern wieder mehr Rassismus zu geben. „Und noch immer sterben jedes Jahr Menschen durch Rassismus und die Polizei. Wann wird das aufhören?“
Auch Collins Khosas Tod macht sie wütend. Für sie steht er exemplarisch dafür, „dass wir die meisten Dinge noch nicht erreicht haben“. Polizei und Armee seien zwar nicht mehr Teil eines Unterdrückungsstaats, aber sie stelle sich immer noch die Frage: „Schützt ihr uns, oder tötet ihr uns?“Es fehle zu vielen Sicherheitsbeamten offenbar der Wille, die Gemeinschaft mit aufzubauen, zu der sie selbst gehören.
„Jedem kann das passieren.“Im kleinen Steinhaus von Khosas Familie ist die Wut noch frisch. „Die Soldaten müssen lebenslang hinter Gitter“, sagt Montsha. Endlich gebe es Druck. „Die Leute haben verstanden, dass jedem das Gleiche wie Collins passieren kann.“An der Wand hängt noch eine Urkunde zu Khosas zehnjährigem Dienstjubiläum in einer Bäckerei. Er hatte sich und seine Familie mit harter Arbeit aus der Armut herausgekämpft. Bis sein Leben abrupt endete.