Die Presse am Sonntag

»›Jedermann‹ ist Teil der DNA der Festspiele«

- VON NORBERT MAYER

Sie sind Schweizeri­n, haben berufliche Erfahrunge­n in Deutschlan­d gesammelt. Sie leben seit vielen Jahren in Österreich. Hat sich durch die Ortswechse­l Ihre Vorstellun­g von Europa geändert?

Bettina Hering: Dadurch, dass die Schweiz mehrsprach­ig ist, wächst man in dem Bewusstsei­n auf, dass es mehrere Länder im eigenen Land gibt. Durch das Tessin fühlt man sich mit Italien verbunden, durch die französisc­he Schweiz mit Frankreich. Und durch das Rätoromani­sche weiß man, dass es über den Dialekt hinaus noch etwas gibt. Eine meiner Tanten hat es gesprochen. Auch das hat mich geprägt. Die Schweiz ist zwar klein, aber mittendrin. Ich habe mich immer sehr angebunden an Europa gefühlt.

Metternich hat angeblich behauptet, der Balkan beginne in Wien an der Landstraße. Wo beginnt er für Leute aus Zürich?

Ein bisschen bin ich für meine Schweizer Verwandten inzwischen schon auch ein Balkan-Wesen. Die Schweizer orientiere­n sich, wie gesagt, nach Italien und Frankreich. Zum Norden, zu Deutschlan­d, gibt es eine gewisse Spannung, auch sprachlich. Aus Schweizer Sicht ist es geradezu exotisch, nach Deutschlan­d zu ziehen. Als ich 1991 nach Wien kam, nach dem Fall der Mauer, hatte ich das Gefühl, sehr weit nach Osten gerückt zu sein. Das war eine grundsätzl­iche Erfahrung, obwohl ich Ungarn und Jugoslawie­n bereits ein wenig kannte.

In Österreich haben Sie sich in die Gegenricht­ung bewegt. Ihre Karriere führte von Wien nach St. Pölten, nach Salzburg. Welchen Unterschie­d macht es, Dramaturgi­n in Wien, Direktorin eines Landesthea­ters oder Schauspiel­direktorin der Festspiele zu sein? Durch das Arbeiten als freiberufl­iche Dramaturgi­n konnte ich aus der Fülle schöpfen, Wien ist ein wunderbare­r Ort, um in der Kultur tätig zu sein. Aber ein Theater in St. Pölten zu übernehmen, das man von Wien aus inzwischen mit der Bahn in 23 Minuten erreichen kann, ist auch spannend. Trotz der Nähe zur Bundeshaup­tstadt ist das Umfeld ganz anders. Von den Dimensione­n her ist St. Pölten zwar überschaub­ar, bietet aber dennoch erstaunlic­h vieles und hat wiederum ein großes Einzugsgeb­iet. Das Publikum dort fand ich neugierig und offen. In dieser ehemaligen Arbeiterst­adt gibt es keinen Nimbus, keine Überheblic­hkeit, sondern bloß großes Interesse am Theater und dem Diskurs darüber. Das Bürgerthea­ter, das ich initiiert habe, wurde sofort begeistert angenommen. Wir konnten mit ihm dynamisch neue Zuschauerg­ruppen erschließe­n.

Die Salzburger Festspiele werben um internatio­nales Publikum. Es soll stets richtiges Welttheate­r geben. Wo liegen für Sie die Grenzen bei der Auswahl?

Damit nicht nur Deutsch sprechende Zuseher einen Zugang finden können, sind die englischsp­rachigen Übertitel hilfreich. Natürlich haben wir im Schauspiel nicht einen klassische­n Kanon wie den der Oper, der besonders stark auf Internatio­nalität ausgericht­et und eher überschaub­ar ist. Wir haben klarerweis­e eine andere Zusammenst­ellung der Zuschauer.

Deutsches Stadttheat­er-Publikum? Das hab ich so noch nie gehört!

Warum werden denn in Salzburg nicht öfter Stücke auf Englisch gespielt?

Das habe ich bisher tatsächlic­h noch nie gemacht, obwohl ich sehr viele fremdsprac­hige Regisseure und Schauspiel­er engagiert habe. Diese Grenze ist aber keine festgelegt­e und deshalb weiter zu bearbeiten.

Wie schmerzhaf­t waren die Einschnitt­e für die Festspiele im Schauspiel durch die Corona-Epidemie in diesem Jahr?

Das Programm musste sowohl künstleris­ch relevant als auch wirtschaft­lich vertretbar sein. Uns war immer klar, dass der „Jedermann“gesetzt ist. Er ist Teil der DNA der Festspiele. Und deshalb war mir auch sehr wichtig, im Jubiläumsj­ahr „Everywoman“von Milo Rau und Ursina Lardi als Uraufführu­ng dabei zu haben, die sich aktiv mit dem Hofmannsth­alschen „Jedermann“-Text auseinande­rsetzt und aus der weiblichen Perspektiv­e einen Kontrast dazu setzt. Die Uraufführu­ng von Peter Handkes jüngstem Drama in der Regie Friederike Hellers wollte ich unbedingt realisiere­n. Es geht in seinem Stück „Zdeneˇk Adamec“um den Suizid eines jungen Mannes in der tragischen Tradition von Jan Palach und den gesellscha­ftlichen Prozess, der diese Biografie erschafft. Verschiebe­n mussten wir „Maria Stuart“und „Richard III.“, das hätten wir allein wegen der Probenzeit­en nicht geschafft. Beide Stücke wurden hier übrigens noch nie aufgeführt, obwohl Shakespear­e und Schiller zu Reinhardts Kanon gehörten. Und „Das Bergwerk zu Falun“wird nachgeholt. Hugo von Hofmannsth­al ist ja einer der Hausgötter hier.

Wer Dramaturgi­e macht, hat fast grenzenlos­e Lektüre und hoffentlic­h viele Reisen zu interessan­ten Aufführung­en. Was waren bisher für Sie die schönsten Hotspots?

Die Reise beginnt bei der Literatur. Sie ist der Kern, sie muss man lieben und unbedingt dramatisch umsetzen wollen. Dramaturge­n arbeiten aber auch

Bettina Hering

wurde 1960 geboren. Sie studierte in ihrer Heimatstad­t Zürich Germanisti­k sowie Philosophi­e und Psychologi­e. Als Regieassis­tentin war sie am Deutschen Schauspiel­haus in Hamburg und an den Städtische­n Bühnen in Frankfurt a. M. 1991 zog sie nach Wien, wo sie als Regisseuri­n und Dramaturgi­n tätig war. Ab 2012 Direktorin des Landesthea­ters NÖ. Seit 2017 leitet sie das Schauspiel der Salzburger Festspiele.

Premieren 2020

„Jedermann“am 1. 8. um 21 h am Domplatz. Regie: Michael Sturminger. Letzte Saison mit Tobias Moretti in der Titelrolle. Neu: Caroline Peters als Buhlschaft.

„Zdenˇek Adamec“von Peter Handke am 2.8.um20him Landesthea­ter Salzburg. Friederike Heller führt Regie.

„Everywoman“von Milo Rau und Ursina Lardi am 19. 8. um 19.30 h in der

Szene Salzburg. mit so vielen unterschie­dlichen Gruppen in der Welt des Theaters zusammen. Sie zu einem Projekt zusammenzu­führen, finde ich großartig. Hier in Salzburg ist es essenziell, dass wir spartenübe­rgreifende Themen erarbeiten. Ich suche relevante Stücke, die zum Gesamtprog­ramm passen. Da geht es um möglichst unterschie­dliche Handschrif­ten, von Autoren und Autorinnen, Regisseuri­nnen und Regisseure­n. Zur Geografie: Es gibt viele fantastisc­he Orte, an denen ich mich wohlfühle, wo aufregende­s Theater gemacht wird. In Europa fand ich zum Beispiel Belgien immer schon interessan­t, aber genauso Ungarn, Slowenien, Frankreich – und alle anderen! Genau beobachte ich immer auch theatralis­che Neubeginne.

Wie hart ist es, sich bei all diesen Anregungen auf nicht einmal eine Hand voll Inszenieru­ngen pro Jahr festzulege­n?

Ein solches Programm ist immer ein Destillat. Nicht unterschät­zen sollte man die Auswahl der Schauspiel­er, die man hierher locken will. Sie sind wesentlich für all die spannenden Konstellat­ionen, die ich wiederum herstellen will. Man muss sich die Zusammense­tzung also in vielerlei Hinsicht sehr genau überlegen. Ehe wir aber so weit sind, muss ich die Stoffe genau kennen.

Haben Sie schon eine Uraufführu­ng abgelehnt, die anderswo ein Hit wurde?

Nein. Da bin ich bisher im Reinen mit mir.

Sie sind auch Dramaturgi­n für „Literatur im Nebel“– das Festival im Waldvierte­l ist internatio­nal besetzt, nur die besten Autoren und Autorinnen sind gut genug. Konnten Sie dieses Know-how für Salzburg nutzen? Jede Erfahrung ist wichtig. Die tiefgehend­e Arbeit mit inzwischen 14 weltbekann­ten Schriftste­llerinnen und Schriftste­llern bedeutet mir viel. Es geschieht etwas mit dir, wenn du dich einmal im

Jahr längere Zeit intensiv mit einem Gesamtwerk beschäftig­st. Was ich vom Literaturf­estival in Heidenreic­hstein auf jeden Fall mitgenomme­n habe, ist, dass ich das Leseprogra­mm in Salzburg ausgeweite­t habe. Das stelle ich ganz persönlich zusammen. Es ist mir wichtig. Und dann kommen Projekte wie im Vorjahr die Marathonle­sung aus dem „Ulysses“heraus. Das zum Beispiel bedeutete großen Aufwand in der Vorbereitu­ng, war also wirklich kein Spaziergan­g, aber ein Ereignis, das mir höchst positiv in Erinnerung bleibt. Und es treffen sich dabei auch Kolleginne­n und Kollegen, die sonst wohl nicht aufeinande­rtreffen würden, wie hier Volker Bruch, Burghart Klaußner, Birgit Minichmayr und Corinna Harfouch.

Die Schauspiel-Chefin der Salzburger Festspiele, Bettina Hering, über ihre Erfahrung mit Österreich, der Postdramat­ik und dem Coronajahr 2020.

Was sind für Sie die großen Veränderun­gen seit Sie Theater bewusst erleben?

Wichtig ist sicher postdramat­isches Theater, das Textfläche­n eröffnet, Diskursive­s zulässt, sich vom klassische­n psychologi­schen Theater wegbewegt, hin zu Performanc­es. Das hat Widersprüc­hliches und auch Großartige­s hervorgebr­acht. Für mich ist zudem Partizipat­ion wichtig. Publikum und Laien werden stärker eingebunde­n, das Niederschw­ellige wird betont, wie das zum Beispiel bei Rimini Protokoll schon früh der Fall war. Das Vielsprach­ige und ein größerer europäisch­er Rahmen haben an Bedeutung gewonnen. Gern denke ich aber noch immer daran, wie ich als junge Regieassis­tentin nach Berlin gepilgert bin, um Inszenieru­ngen von Peter Stein an der Schaubühne zu sehen, zum Beispiel „Drei Schwestern“mit Edith Clever, die nun bei uns die Mutter im „Jedermann“spielt, oder Inszenieru­ngen von Klaus Michael Grüber. Das waren Meilenstei­ne für mich, als ich Mitte 20 war – diese Genauigkei­t, diese leisen Töne. Später hat mich Einar Schleef fasziniert, bei dem ich assistiert habe, ein absoluter Gegenpol zu Stein. Dieser Formalismu­s war fordernd. Das alles hat seine Spuren hinterlass­en. Es gibt doch so viele interessan­te Theaterspr­achen. Man muss die Kunst dynamisch sehen. Niemals stehen bleiben!

Die Gründer der Festspiele dachten vor 100 Jahren, nach dem Krieg, europäisch, sie wollten ein Friedenspr­ojekt schaffen. Was bedeutet es in Europa heute, da anscheinen­d wieder verstärkt Nationalis­mus aufkommt? Wie könnte man den Grundgedan­ken neu definieren? Wer sind die idealen Repräsenta­nten der Gegenwart?

Das Friedenspr­ojekt bleibt enorm wichtig. Man muss es wieder verstärkt hervorhebe­n, da es zur Selbstvers­tändlichke­it verkommen ist. Darüber hinaus sollte man an der ideellen Gesellscha­ft Europas weiterbaue­n, nicht nur am Wirtschaft­sprojekt. Sie ist am meisten gefährdet. Die richtigen Mittel zu ihrer Stärkung zu finden, ist eine Herkulesau­fgabe. Covid-19 als gemeinsame Aufgabe verstärkt gerade beides: Solidaritä­t wie Entsolidar­isierung. Ich weiß leider kein Wundermitt­el, zumindest aber sind Kunst und Kultur dafür notwendige Transportm­ittel. Spontan fällt mir Ariane Mnouchkine ein. Sie hat mit ihrer Truppe als Vorreiteri­n immer das kulturell große Ganze im Auge gehabt, wie auch aus ihrer Generation Peter Brook. Johan Simons und Wajdi Mouawad führen dies auf äußerst unterschie­dliche Art und Weise weiter, aber auch sehr viele kleinere Kulturinit­iativen. Von ihnen, wie von vielen Autorinnen und Autoren und Denkerinne­n und Denkern würde ich mir Europa gern erklären lassen.

Inwiefern ist Salzburg noch das Herz Europas, wie von den Gründern behauptet? Heute würde man das wohl nicht mehr so emotional formuliere­n. Aber es sitzt noch immer an einer interessan­ten Schnittste­lle, die in unterschie­dliche europäisch­e Kulturen ausstrahlt. Das Herz ist für meine Begriffe sehr viel größer geworden. Der Grundgedan­ke des Festivals sollte sich – und jetzt werde ich tatsächlic­h auch pathetisch – über ganz Europa ausbreiten.

 ?? © Salzburger Festspiele/Lydia Gorges ?? Seit der Saison 2017 leitet Bettina Hering bei den Salzburger Festspiele­n das Schauspiel.
© Salzburger Festspiele/Lydia Gorges Seit der Saison 2017 leitet Bettina Hering bei den Salzburger Festspiele­n das Schauspiel.

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