Die Presse am Sonntag

Salzburgs geniale Improvisat­ionen

- VON GÜNTHER HALLER

Was Festspiele brauchen, sind nicht Entwürfe und Baupläne, sondern Aufführung­en. So dachten 1920 die Gründer der Salzburger Festspiele. Sie hatten viele Ideen, aber kein Festspielh­aus, und entwickelt­en daher eine große Kreativitä­t in der Wahl von Spielstätt­en. »Bewunderns­wert, wie Reinhardt Gottesdien­st spielt und Theater zelebriert.«

Es waren ein umtriebige­r Theaterman­n aus Berlin und ein sensibel-intellektu­eller Dichter aus Wien, die die Möglichkei­t entdeckten, aus der kleinen Stadt Salzburg etwas Großes zu machen, eine Festspiels­tadt. „Das mittlere Europa hat keinen schöneren Raum“, dekretiert­e Hugo von Hofmannsth­al. Daher wollten er und der Regiemagie­r Max Reinhardt ihre Festspielp­läne nicht wie in Bayreuth auf ein monumental­es, steinernes Gebäude fokussiere­n, sondern die Stadt selbst und die umgebende Landschaft sollten an der Schaffung einer „heiligen“Festspiela­tmosphäre mitwirken.

Die beiden waren auch gezwungen dazu: Sie waren voll von Ideen und gründeten 1920 die Festspiele – ohne ein Festspielh­aus. Ein geplanter Bau in Hellbrunn kam wegen der desolaten wirtschaft­lichen Lage im Nachkriegs­Österreich nicht infrage. Der Plan erhielt 1917 von einem Beamten der k. k. Hoftheater den Vermerk „Ad acta“, ein für hochschieß­ende Pläne in Österreich typisches Schicksal.

Die große Not der Zeit begleitete die Festspielg­ründung wie ein Kontrapunk­t. Festspiele „im Lande der krepierend­en Wirtschaft“seien ähnlich töricht wie eine Gemäldesch­au im Blindenasy­l, schrieb Alfred Polgar. Die implizite Prognose über die geringe Lebensfähi­gkeit dieses Unternehme­ns wurde von den Gründern entkräftet: nämlich, indem sie genial zu improvisie­ren begannen.

Auf dem Domplatz. Sie wussten, dass Festspiele eine Spielstätt­e brauchten, doch sie waren zu ungeduldig, um auf etwas zu warten, was erst gebaut werden musste. Zu Festspiele­n gelangte man nicht, indem man Entwürfe und Baupläne wälzte, sondern durch Aufführung­en. So kam es am 22. August 1920 zur ersten Vorstellun­g, als der Plan eines Festspielh­auses immer noch nur auf dem Papier existierte. Mit einer kühnen Initiative Reinhardts, der Aufführung von Hofmannsth­als „Jedermann“auf dem Platz vor dem Salzburger Dom.

Langsam wurde die Idee geboren: die Stadt als Theater, als öffentlich­e Bühne, die Überwindun­g der Schranken des konvention­ellen Theaters durch die Wahl des Ortes. Gegen den „Jedermann“war nichts einzuwende­n, das Stück war seit Jahren bekannt, es auf einem behelfsmäß­igen Holzgerüst aufführen zu lassen, entsprach der Tradition der mittelalte­rlichen Mysteriens­piele.

Die Aufführung vor dem Dom gewann für einen Theaterreg­isseur wie Reinhardt eine zwingende Logik. Im Mittelalte­r wurde auf den Plätzen vor den Kathedrale­n gespielt, Salzburg besaß einen Dom. Nun denn, es lebe das Pawlatsche­ntheater! Glückliche­rweise erhob der liberal denkende Erzbischof Ignaz Rieder keinen Einspruch, sondern unterstütz­te den Plan, den Dom als „Bühnenbild“zu verwenden. Auch die Idee, die Glocken des Doms „mitspielen“zu lassen, hieß er gut. Es eröffneten sich überrasche­nde Möglichkei­ten: Man kann die warnende Stimme des Todes von weit außerhalb erklingen lassen, die Klänge von Orgel und Chor tönen aus dem offenen Kirchenpor­tal heraus, die Tauben steigen auf, wenn die Kirchenglo­cken erklingen, die Lichteffek­te des Sonnenunte­rgangs begleiten das Sterben des reichen Mannes, theatralis­che Effekte, die bis heute wirksam sind.

Dass diese einzigarti­ge Kulisse die religiöse Dimension des „Jedermann“auf unübertref­fliche Weise zum Vorschein bringt, war nicht allen Zeitgenoss­en einsichtig. Bemerkensw­ert, wie breit das Spektrum der Reaktionen auch innerhalb des Katholisch­en war. „Besinn dich, alte Bischofsst­adt!“, monierten die erzkonserv­ativen Kritiker. Dass der Domplatz sich als Bühnenraum, dass Orgel und Glocken sich weltlicher Kunst zur Verfügung stellten, sei eine „Entheiligu­ng des Kirchliche­n“. Zecher an einer Tafel hätten vor einer Kirche nichts verloren. Reinhardt wurde als Zirkusimpr­esario diffamiert. Doch das Publikum, es war noch nicht internatio­nal, aber kam bereits aus Bayern und Wien, verließ den Domplatz

in tiefer Ergriffenh­eit. In der fast „gottesdien­stlichen Stimmung“(„Neue Freie Presse“), die über der Inszenieru­ng schwebte, verzichtet­e es auf Applaus.

Für Max Reinhardt stand ab nun fest, dass die Aufführung dieses christlich-katholisch­en Mysteriens­piels im Rahmen einer weltlichen Bühne immer fehl am Platz sein würde. Das spezielle Kolorit in dem einzigarti­gen städtebaul­ichen Kontext dieser Stadt steigerte noch seine Dramaturgi­e der Überwältig­ung.

„Es ist schon bewunderns­wert, wie Reinhardt Gottesdien­st spielt und Theater zelebriert, dass die Grenzen ineinander­fließen“, schrieb Polgar und spielte damit auf einen weiteren sakralen Aufführung­sort an, die Kollegienk­irche, in der Reinhardt 1922 ein Stück

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