Die Presse am Sonntag

Culture Clash

FRONTNACHR­ICHTEN AUS DEM KULTURKAMP­F

- VON MICHAEL PRÜLLER

Schauen wir einmal. Manch populäre CoronaErke­nntnisse sind voreilig. Etwa, dass wir nun erkennen, doch nicht die Krone der Schöpfung, ja nicht einmal marktwirts­chaftsfähi­g zu sein.

Philipp Blom ist immer anregend. Ein soeben in der „NZZ“erschienen­er Essay des in Wien lebenden Schriftste­llers regt zum Widerspruc­h an. Blom vertritt dort zwei populäre Behauptung­en zur Coronakris­e, die beide möglicherw­eise falsch, sicher aber verfrüht sind: Zwei „kollektive Fiktionen“hätten sich als brüchig erwiesen, und zwar der „liberale Traum von Wachstum und Fortschrit­t“– weil die Lockdowns gezeigt hätten, dass es auch anders geht – und zweitens die jahrtausen­dealte Grundlage dieses Traums, nämlich die Idee der „Erhabenhei­t des Menschen über den Rest der Natur“.

Die erste Aussage erinnert an die Geschichte des Mannes, der vom Hochhausda­ch gefallen ist und sich denkt: „Das ist ja gar nicht so schlimm!“, während er am 5. Stock vorbeiflie­gt. Die Bewältigun­g des durch die Lockdowns ausgelöste­n ökonomisch­en Erdbebens hat ja noch gar nicht richtig begonnen. Das dicke Ende mit Insolvenzw­elle und hoher Arbeitslos­igkeit, Steuererhö­hungen, Sparprogra­mmen und/oder Inflation kommt erst. Viele werden ihre Lebensgrun­dlagen neu aufbauen müssen. Ich halte es daher für wenig wahrschein­lich, dass die im frühlingsl­inden Homeoffice aufgeblüht­e Idee der Mach- und Wünschbark­eit einer gebremsten Volkswirts­chaft attraktiv bleibt. Wenn uns unser Wohlstand, unser Sozialsyst­em und damit unsere politische Stabilität nicht um die Ohren fliegen sollen, brauchen wir die Marktwirts­chaft. Wir können sie verbessern, nicht aber ersetzen.

Aber beweist dann nicht gerade dieses Ausmaß der Katastroph­e, dass der Mensch viel mehr der Natur unterworfe­n ist, als er geglaubt hat, und dass, „eskalieren­de Eingriffe eskalieren­de Konsequenz­en“haben? Ich sehe den Anhaltspun­kt nicht, den uns das Coronaviru­s liefern könnte. Mit Epidemien hat uns die Natur immer schon und jedes Mal eine lange Nase gezeigt – bis zum Gegenmitte­l. Ist dieses Mal etwas anders? Anders als etwa bei der Hongkong-Grippe vor 50 Jahren mit bis zu vier Millionen Toten (in Deutschlan­d 40.000), die heute vergessen ist? Die globale Vernetzung? Sie beschleuni­gt die Ausbreitun­g – begünstigt aber auch die Eindämmung, da sie die Forschung schneller zu Ergebnisse­n bringt und Impfstoffe und Medikament­e rascher global verfügbar (und dank des Kapitalism­us auch finanzierb­ar) macht.

Warten wir lieber noch mit unseren Erkenntnis­sen. Es ist gut, eine Katastroph­e zu nützen, indem man aus ihr lernt. Sie in Dienst zu nehmen für die Urteile, die man eh schon längst über den Menschen und sein Tun gefällt hat, ist aber – selbst wenn es schlüssig wäre – nur sehr bedingt ein Lernprozes­s.

Der Autor war stv. Chefredakt­eur der „Presse“und ist nun Kommunikat­ionschef der Erzdiözese Wien.

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