Wie Domingo dem Alter trotzt
Pl´acido Domingo mit 80 Jahren in der Titelpartie von Verdis „Nabucco“aus der Staatsoper: Das ist problematisch und bewundernswert zugleich. Zu sehen um 20.15 Uhr auf ORF III.
Eine Gelegenheit, sich zu fragen: Wie gehen wir mit dem eigenen Alter um?
So ist das halt im Herbst: Mag einmal noch ein prächtiger Altweibersommer die Glieder wärmen, fegen einem ein anderes Mal schon Winterstürme ins Gesicht. Ein angenehm milder Tag seines Karriereherbstes war Pla´cido Domingo, der vor wenigen Tagen seinen 80. Geburtstag gefeiert hat, für seinen 271. Auftritt an der Wiener Staatsoper vergönnt. Sein Debüt gab er als Verdis Don Carlo 1967. Noch keine vier Jahre ist es also her, dass Domingo sein goldenes Staatsopernjubiläum zelebrierte – mit einer Verdi-Gala, die dem versierten Charakterdarsteller Gelegenheit gab, sich in drei kompletten Opernakten von unterschiedlichen, intensiven Seiten zu zeigen. Als Bariton, versteht sich: in der Rolle des eifersüchtig mordenden Renato in „Un ballo in maschera“, als gar nicht herablassender Germont in „La Traviata“, der Violettas Verzicht ehrlich zu erflehen schien, sowie als Simon Boccanegra, seiner Initialpartie beim Wechsel in die tiefere Stimmlage, als ein gebrochener, vom Tode gezeichneter Doge von Venedig. Damals wogte dem Jubilar aus dem vollen Haus, dem Graben und von der Bühne ungetrübte Begeisterung entgegen. Dieses Mal, bei der Aufzeichnung dieser Vorstellung vor leeren Reihen, konnte kein Publikum mit einstimmen. Aber Sympathie und Bewunderung, ja Liebe wogten dennoch durchs Haus, als der Staatsopernchor hinterher auf offener Bühne ein fulminantes „Happy Birthday“für den gerührten Jubilar erschallen ließ: So viel Huldigung musste sein.
Ob die Wahl aus rein pragmatischen Gründen auf „Nabucco“gefallen ist, den Domingo 2014 erstmals in Wien gesungen hat – und zwar körperlich in besserer Verfassung, stimmlich aber sogar müder als jetzt? Einfach zugunsten einer lohnenden, darstellerisch fordernden Partie? Es lässt sich auch symbolischer Hintersinn darin erkennen, dass sich der babylonische König, zunächst von Hybris erfasst und mit Wahnsinn geschlagen, wieder zu klarem Geist und auf den Thron zurückkämpft: ein bisschen wie Domingo nach seiner Covid-Erkrankung und auch den MeToo-Vorwürfen, bei denen hierzulande die treuen Fans und auch Intendanten seinen Beteuerungen Glauben schenken, es wäre nichts dran – oder sich zumindest nicht zu Richtern machen wollen.
Unermüdlich? Dass die Oper Gefühle in einer Intensität zu wecken vermag wie keine andere Kunstform, darüber sind sich wohl alle einig, die an diesem Abend gern physisch mit dabei gewesen wären. Und wer miterleben durfte, wie dieser Marathonmann der Oper beim Unermüdlichsein fallweise schon etwas erschöpft wirkt, dem bot sich auch Gelegenheit zur Gewissenserforschung: Wie wird man einmal mit dem eigenen Alter umgehen, wie tut man es schon? Wird man sich gegen die Biologie stemmen, an Beruf und Berufung klammern, an echten oder eingebildeten Ruhm, der vielleicht im gleichen Ausmaß schwindet wie die eigenen Kräfte? Wer muss sich im neunten Lebensjahrzehnt beweisen, dass es noch geht – wenn auch unweigerlich nicht mehr so wie früher? Was hält einen fit und auf Trab, wovor hat man Angst?
Mochte man es nun als Mehrwert oder Ballast empfinden: Bei all dem war eine Aufführung des „Nabucco“zu erleben, in Günter Krämers auch beim 79. Mal noch tragfähigen Inszenierung, die das Schicksal der Israeliten in der babylonischen Gefangenschaft mit der Judenverfolgung des 20. Jahrhunderts verquickt – und sogar eine, bei der verständlich wurde, was dieses Stück zum Startschuss für Verdis Karriere werden ließ: die Stärke der vokalen Charakterisierung der Figuren, der klug ausbalancierte Wechsel an Szenen und Stimmungen, die zündende Wirkung, der kreative Umgang mit der Tradition.
Marco Armiliato ist ein fähiger Kapellmeister, der auf die Bedürfnisse der Stimmen eingehen kann und zugleich stets eine klare Linie verfolgt. Das Orchester und der Chor, nicht nur beim berühmten, im Liegen begonnenen „Va, pensiero“, steuerten auf sein Geheiß innige, aufbrausende, immer dramatische Klänge bei – und es mag sogar sein, dass bis zur fertig geschnittenen Version für ORF III noch kleine Unebenheiten nachgebessert werden.
Sängerisch gebührte die Krone des Abends der Staatsoperndebütantin Anna Pirozzi: Endlich wieder einmal eine jugendlich klingende Abigaille, die ihre durch die Oktaven turnenden Zornes- und Triumphgesten ebenso glaubwürdig erfüllt wie die leichte Tongebung in verzierten Passagen – geflutetes Piano in der Höhe inklusive. Ihr Sopran hat den nötigen metallischen Kern, tönt dabei aber nie blechern; allenfalls in der Art des Vortrags kann sie (noch) nicht durchwegs optimal verkaufen, was ihr rein technisch kaum spürbare Mühe bereitet. Es ist
Anna Pirozzi reüssiert an seiner Seite als eine aufregende neue Abigaille.
schon göttliche Intervention nötig, dass Nabucco gegen diese Kontrahentin aufkommen kann: Domingos Stimme spricht dort nicht voll an, wo er als Bariton markant akzentuieren und langen Atem beweisen müsste, sondern lässt typische Mängel eines alten Tenors hören. Doch mögen Stimmbänder und Zwerchfell auch vorübergehend schwächeln, der Wille bleibt eisern. Freddie De Tommaso gab mit dunklem Tenor seinen ersten Wiener Ismaele und Sziliva Vörös wiederholte ihre wohllautende Fenena, während für Riccardo Zanellato, der als Zaccharia schmalbrüstig und stumpf klang, das Hausdebüt zu spät kam.
War das also Domingos Staatsopernabschied? Wenn ja, hätte er es schlechter treffen können.