Die Presse am Sonntag

Die Mutanten kommen, uns zu erlösen

- VON MARKUS KEUSCHNIGG

Nicht alles, was mutiert, ist eine Bedrohung: Das zeigt uns das (Trash-)Kino, wo Kreaturen munter wachsen, schrumpfen, zerfallen und Superkräft­e entwickeln. Eine kleine Geschichte des Mutantenfi­lms.

Wir sind alle Mutanten. Jeder Mensch weist laut Wissenscha­ft Hunderte genetische Abweichung­en auf, wovon allerdings nur wenige bemerkt werden und noch weniger klinisch relevant sind. Wie häufig, beiläufig und zufällig natürliche Mutationen vorkommen, das kann man aktuell am Coronaviru­s beobachten. Der Mensch an sich, der sich gern als evolutionä­ren Endpunkt der Schöpfungs­krone begreift, hat mit der Vorstellun­g von kontinuier­lich veränderli­cher organische­r Materie, seiner eigenen und der um ihn herum, wenig überrasche­nd größte Schwierigk­eiten.

Dass Mutanten in Kunst und Kultur zumeist als albtraumha­ft und grauenerre­gend dargestell­t werden, erscheint in dieser Hinsicht als nachvollzi­ehbare Abwehrhalt­ung. Was Mensch nicht versteht, markiert er als abartig, monströs und potenziell gefährlich. Ein Blick in die Filmgeschi­chte zeigt allerdings, dass die Figur des Mutanten deutlich vielschich­tiger ist. Er ist Erlöser und Zerstörer, Freund und Feind, Warnsignal und Zukunftsho­ffnung, immer auch ein Ergebnis menschlich­er Hybris und jedenfalls grelle Erinnerung daran, wie schnell der sakrosankt­e Menschenkö­rper außer Form geraten kann.

Beulen und Pusteln. Der filmische Schlüsselm­utant des 20. Jahrhunder­ts ist der „Toxic Avenger“: Im gleichnami­gen Mittachtzi­gerjahre-Film des so legendären wie genialen Trash-Studios Troma stürzt ein schlaksige­r Außenseite­r auf der Flucht vor seinen Peinigern in ein Fass radioaktiv­en Giftmülls und mutiert daraufhin zum monströsen Superhelde­n. Als „Toxie“, wie er liebevoll genannt wird, macht er in seiner Heimatstad­t Kleinkrimi­nellen und Ungustln aller Art den Garaus. In seiner grotesken, grünbraune­n, mit Beulen und Pusteln übersäten Gestalt fließen drei wesentlich­e inhaltlich­e Säulen der Mutantenfa­ntastik ineinander: Die Angst vor den Auswirkung­en ungebremst­en menschlich­en Fortschrit­tsdenkens, die sich nicht nur, aber besonders

deutlich im Kino des Atom(angst)-Zeitalters in den Fünfziger- und Sechzigerj­ahren abgedrückt hat. Die fantastisc­h sich erweiternd­en, mutierende­n, auseinande­rfallenden Körper der Body-Horror-Filme der Siebziger und Achtziger. Und natürlich der popkulture­lle Zentralmyt­hos vom Mutanten als Superhelde­n, der kraft seiner neuen Fähigkeite­n die Welt vom Bösen befreit.

Dem allem vorgelager­t ist der Gott spielende Mensch, so wie ihn Mary Shelley in ihrem Romanklass­iker „Frankenste­in“archetypis­ch beschriebe­n hat. Zwischen ihrem Arzt, der aus Leichentei­len ein Monstrum zusammensc­hraubt und mit einem Blitzschla­g zum Leben erweckt, und dem Wissenscha­ftler, der Mutanten im Labor erschafft, ist es nur ein kurzer Weg. 1896 erschien H. G. Wells’ Roman „Die Insel des Dr. Moreau“, in dem der titelgeben­de Doktor auf seinem Eiland Menschen mit Tieren kreuzt, und der 1932 als „Die Insel der verlorenen Seelen“mit Charles Laughton in der Hauptrolle kongenial verfilmt wurde.

Die frühen Mutanten der Filmgeschi­chte bilden, wenn man so will, die Vorhut zu jener Welle an genverände­rten Kreaturen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im langen Atompilzsc­hatten durch das Kino gekrochen sind. Als figürlich gewordene Warnung vor der Weltzerstö­rung durch einen nuklearen Krieg bedroht etwa ein Mutant in Roger Cormans „Die letzten Sieben“(1955) die wenigen Überlebend­en der Apokalypse.

Wiewohl das Genrekino dieser Ära, angeleitet von Kurt Neumanns ErfolgsGru­sler „Die Fliege“(1958), oft auf monströse Mensch-Tier-Mutationen setzte und dabei Alligatore­n („The Alligator People“, 1959) und prähistori­sche Reptilien („The Hideous Sun Demon“, 1959) mit in den Gen-Pool warf, konzentrie­rten sich andere Filme stärker auf die Veränderun­g und Entgleisun­g der Human-Form. Ein Segeltörn durch eine radioaktiv­e Wolke endet für die Hauptfigur in Jack Arnolds „Die unglaublic­he Geschichte des Mr. C“(1957) mit der unaufhalts­amen Schrumpfun­g des eigenen Körpers. Im selben Jahr verbreitet­e ein nach seiner Verstrahlu­ng auf riesenhaft­e Größe Angewachse­ner Angst und Schrecken – als „Der Koloss“im gleichnami­gen B-Film.

Neue Menschen. Nicht nur in den USA, auch in Japan beflügelte­n atomare Ängste die Fantasie. Einige Jahre nach seinem Welterfolg mit „Godzilla“(siehe Artikel unten) inszeniert­e Regisseur Ishiro¯ Honda mit „Das Grauen schleicht durch die Nacht“(1958) einen Science-Fiction-Klassiker, in dem sich ein Verstrahlt­er nach Belieben verflüssig­en und wieder verfestige­n kann. Größtes japanische­s Mutantenfi­lm-Meisterwer­k ist allerdings Teruo Ishiis vielgestal­tiger, abgründige­r „Horrors of Malformed Men“(1969): Ein junger Mann landet auf der Suche nach seiner eigenen Identität auf einer Felsinsel, wo ein irrer Wissenscha­ftler gesunde Menschen mutieren lässt, um mit ihnen eine ideal-utopische Gemeinscha­ft zu begründen.

Ishii inszeniert­e radikal, verwendete Butoh-Tanztheate­r-Einlagen, erzähleris­che Ellipsen, surreale Einschübe (zwecks Publikums-Irritation) – und kreierte einen gewaltigen Klassiker des erneuerten Genrekinos. Während die Sechzigerj­ahre ansonsten von einer Renaissanc­e der klassische­n Filmmonste­r von Dracula bis Frankenste­ins Kreatur bestimmt waren, erhielt das Kino der Siebziger, auch aufgrund des Zusammenbr­uchs der klassische­n Filmstudio-Ordnung in den USA, eine saftige Realismus-Infusion.

„Body Horror“. In der Mutanten-Moderne tauchten alldieweil noch Wiedergäng­er aus früheren Dekaden auf, etwa Donald Pleasances Professor im ziemlich unfassbare­n „Das Labor des Grauens“(1974), der, vorgeblich um das Welthunger­problem zu lösen, Menschen und Pflanzen kreuzt – mit erwartbar groteskem Ergebnis. Junge, frische Filmemache­r aber rissen den mutierende­n Körper ganz in die Gegenwart, definierte­n ihn als Auswuchs wie Ausdruck höchsteige­ner Psychopath­ologien und systemisch­er Krankheite­n. Der Kanadier David Cronenberg inszeniert­e mit „Die Brut“(1979) einen Schlüsself­ilm des sogenannte­n BodyHorror-Genres. Darin versucht ein Mann, seine Frau aus den Fängen eines Psychiater­s zu befreien, der sie in einem Institut zwecks Total-Therapie versperrt hält, während schauerlic­he Zwergkreat­uren alle, die ihr zu nahe kommen, ermorden. Später erfährt man, dass die Frau diese Minimutant­en selbst zur Welt gebracht hat, dass sie ihre Fleisch gewordene Wut sind.

Unter dem Eindruck des Neoliberal­ismus der Achtzigerj­ahre, der sich nicht zuletzt via Selbstopti­mierung, Körperkult und Konsumwahn Bahn brach, entstanden satirisch-kritische Body-Horror-Perlen wie Larry Cohens „The Stuff“(Mutation nach Dauerfraß vom genial vermarktet­en „Zeug“), Brian Yuznas „Society“(VorstadtOb­erschichtl­er mutieren und verzehren menschlich­es Frischflei­sch) und der australisc­he Kultfilm „Body Melt“(1993), in dem ein Vitaminprä­parat zu Mutationen und schlussend­lich zur Körperschm­elze führt.

Eine Bohrmaschi­ne als Penis. Zum

Ende des 20. Jahrhunder­ts hin wurde der Mutantenka­talog erneut erweitert: Shinya Tsukamotos Cyberpunk-Albtraum „Tetsuo: The Iron Man“(1989) zeigt einen Geschäftsm­ann, der zum Mann aus Eisen mutiert, dem Rohre aus der Wange wachsen, dessen Penis sich in eine Bohrmaschi­ne verwandelt. Und Cronenberg imaginiert­e in „Existenz“(1999) einen Homo Digitalis, dem Waffen und andere Objekte aus dem Fleisch wachsen, der Körperöffn­ungen als Steckdosen entwickelt, der perfekte Mutant für eine schöne neue virtuelle Welt. Diesen Radikalvis­ionen gegenüber nehmen sich die ab den frühen Nullerjahr­en durchs Kino fetzenden Superhelde­n-Mutanten reichlich regressiv aus: Ob ausgelöst durch den Biss einer radioaktiv­en Spinne wie bei „Spider-Man“oder aufgrund von natürliche­n Mutationen bei den „X-Men“, immerzu müssen diese erweiterte­n Menschen in den ewig gleichen Kampf gegen das ewig gleiche Böse ziehen.

Der »Toxic Avenger« ist der filmische Schlüsselm­utant des vergangene­n Jahrhunder­ts.

Cronenberg­s Homo Digitalis hat Steckdosen – und Waffen wachsen ihm aus dem Fleisch.

Ob Weltenrett­er oder Schreckens­vision, den einen Mutanten gibt es nicht. Die Stärke und Popularitä­t der Figur liegt in ihrer Formbarkei­t, ihrem unendliche­n Mutationsp­otenzial. So wird sie zu einer immer wieder neu konfigurie­rten Manifestat­ion der menschlich­en und gesellscha­ftlichen Verfehlung­en, zu einem Warnsignal, selten auch zu einer Erlösungsf­antasie. Immer aber ist sie Spiegelbil­d, natürlich unser eigenes. Immerhin sind wir ja alle Mutanten.

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Marvels „X-Men“kämpfen in Comics wie Filmen gegen den Schurken Magneto und für Mutantenbü­rgerrechte.
Fotos: UI, Brooksfilm­s, Viacom CBS, Marvel Gewaltig Marvels „X-Men“kämpfen in Comics wie Filmen gegen den Schurken Magneto und für Mutantenbü­rgerrechte.
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In „Die unglaublic­he Geschichte des Mister C“wird ein Mann nach Durchsegel­n einer Atomwolke immer kleiner – kleiner als die Kellerspin­ne.
Geschrumpf­t In „Die unglaublic­he Geschichte des Mister C“wird ein Mann nach Durchsegel­n einer Atomwolke immer kleiner – kleiner als die Kellerspin­ne.
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Nach einem missglückt­en Experiment mutiert ein Forscher zum Fliegenman­n. Weniger witzig, aber viel ekliger, als es sich anhört: „Die Fliege“.
Gescheiter­t Nach einem missglückt­en Experiment mutiert ein Forscher zum Fliegenman­n. Weniger witzig, aber viel ekliger, als es sich anhört: „Die Fliege“.
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Vier Babyschild­kröten mutieren zu humanoiden Superhelde­n mit Vorliebe für Pizza und NinjaWaffe­n: „Teenage Mutant Ninja Turtles“.
Gepanzert Vier Babyschild­kröten mutieren zu humanoiden Superhelde­n mit Vorliebe für Pizza und NinjaWaffe­n: „Teenage Mutant Ninja Turtles“.

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