Hemmungsloser Verführer im Bademantel
Ein Publikumsliebling als Phänomen. Ein pathetischer Poet für die Masse: Trotz kritischer Texte reißt Udo Jürgens seine Fans zu Jubelstürmen hin. Ein wildes Leben lang dreht sich der Entertainer im Hamsterrad des Erfolgs. Ständig am Limit.
Stars wie Sammy Davis Jr. und Bing Crosby singen seine Kompositionen.
Ich sehe mich in meinem weißen Bademantel auf irgendeiner Bühne sitzen, vor mir wunderschöne Mädchen, von denen ich eines, vielleicht waren es manchmal auch zwei, mit in mein Hotelzimmer nahm. Nichts ernst nehmend. Schon gar nicht das Leben“, beschreibt Udo Jürgens im Buch Gänsehaut unterm Smoking sein „herrlich verrücktes Leben in einer schrecklich-verrückten Zeit“.
Udo Jürgens, ein musikalisches Phänomen. Ein pathetischer Poet für die Masse. Ein Pop-Idol, das rund 100 Millionen Tonträger verkauft. Er schreibt mehr als 1000 Songs, die er in acht Sprachen singt. Hits wie „Griechischer Wein“, „Aber bitte mit Sahne“oder „Ich war noch niemals in New York“begeistern die Massen. Aber er schreibt und singt nicht nur oberflächliche Schlager, sondern auch Lieder
Michael Horowitz
mit Tiefgang. Mit Textzeilen wie „Die Erde ist bald ausgeraubt – das Wasser tot, das Land entlaubt – der Himmel luftdicht zugeschraubt“warnt er schon früh vor der hemmungslosen Ausbeutung der Natur.
In „Ein ehrenwertes Haus“prangert er die Selbstgerechtigkeit des Spießertums an, mit „Rot blüht der Mohn“Drogenmissbrauch. Das Kuriosum Udo Jürgens in der oberflächlichen Welt der Schlager: Trotz der kritischen Texte gegen Hunger, Geldgier und Rassismus reißen seine Hits über Mittelmaß und Schweigen in Melodien voller Leichtigkeit die Fans zu Jubelstürmen hin. Wenn Udo Jürgens in den ausverkauften Hallen schweißgebadet im Bademantel zurück auf die Bühne kommt und auf seinem gläsernen Flügel Zugaben gibt, bedient er ein Ritual, ein Glücksgefühl, von dem seine Zuschauerinnen auf dem Weg zurück in ihren grauen Alltag noch lang zehren.
Udo weiß sich ein wildes Leben lang zu inszenieren und schafft es, fast nie peinlich zu wirken – wenn er nach Konzerten mit Mädchen, die seine Enkelinnen sein könnten, in seinem Hotelzimmer verschwindet, sieht man ihn zum Glück nicht. Im verfilmten Buch Der Mann mit dem Fagott werden die ersten Jahre seiner Karriere und die schicksalhafte Geschichte dreier Generationen der Familie Jürgens mit Ereignissen
und Tragödien des 20. Jahrhunderts vermischt: vom Ende des kosmopolitischen Finanzbürgertums über die Russische Revolution, die Dramatik des Dritten Reichs bis zum Wiederaufbau und Wirtschaftswunder.
Der fünfjährige Udo Jürgen Bockelmann bekommt von den Eltern eine kleine Mundharmonika geschenkt. Auf dem Gut der Bankiersfamilie Bockelmann in Ottmanach, nordöstlich von Klagenfurt, steht ein Flügel, bald beginnt sich der Bub das Klavierspielen selbst beizubringen. Und geht unbeirrt seinen Weg.
Obwohl er auf dem linken Ohr beinahe taub ist: Während einer Wehrübung wird er von einem Jungzugführer so brutal geschlagen, dass es ihm das Trommelfell zerfetzt. Doch der Bub kämpft für seinen Traum weiter. Die
Liebe zur Musik ist stärker als die Gewalt eines NS-Fanatikers. Bei einem Komponistenwettbewerb des ORF gewinnt das Lied des Sechzehnjährigen „Je t’aime“unter 300 Einsendungen. Mit Mama Käthe fährt er zur Preisverleihung nach Wien. Auf das JohannStrauß-Denkmal legt er eine Rose.
1951 Gründung der Udo Bolan Combo, die in Wirtshäusern auftritt. Stundengage: fünf Schilling. Danach klimpert er bis in den frühen Morgen als Jazzpianist für Trinkgeld in Bars am Wörthersee. 1954 folgt der erste Plattenvertrag unter dem Namen Udo Jürgens, der Startschuss für die Künstlerkarriere eines Nervenbündels: in Bierzelten, auf Bauernmärkten und im Vorprogramm bei Bunten Abenden. Untertags dreht er Filme in Velden mit vielversprechenden Titeln wie „Unsere tollen Tanten“. Produzenten wollen aus dem jungen Schlagersänger einen zweiten Freddy Quinn generieren. Doch seine jugendliche Fantasie ist von anderen Bildern geprägt, seine zukünftige Traumwelt sieht anders aus: „Frank Sinatra! Rechts ein Whiskyglas und eine blonde, links eine Zigarette und eine dunkle Schönheit im Arm . . .“
Bereits 1965 singen Stars wie Brenda Lee und Sarah Vaughan seine Kompositionen, später auch Bing Crosby und Sammy Davis Jr. 1966 nimmt Udo Jürgens zum dritten Mal am ChansonGrand-Prix teil und gewinnt mit „Merci, Che´ rie“. In mehr als 20 Ländern landet das Lied an der Spitze der Hitparaden
uropa im Jahr 2020: Die Grenzen sind dicht, die Bürger arbeiten in häuslicher Isolation, die Lieferketten sind am Bersten. Und erstmals seit Jahren lässt der Kampf gegen das Coronavirus auch die Zahl der Zuwanderer schrumpfen. Bis einschließlich November ging die Zahl der Asylanträge in den 27 EU-Ländern im Vergleich zu 2019 um ein Drittel zurück. Bei den OECD-Staaten sieht es nicht anders aus. Es sei „ein historischer Rückgang“, sagt Thomas Liebig, Migrationsexperte der OECD.
Nicht so in Österreich. Hierzulande dürften die Asylanträge im Vorjahr entgegen dem internationalen Trend sogar gestiegen sein. Ende November lag die Zahl bereits über 12.500, nahe dem Jahreswert von 2019. In Ungarn klopfte derweil nur eine Handvoll Menschen an. Das bringt eine Frage wieder aufs Tapet, die zuletzt in der Flüchtlingskrise 2015 heiß debattiert wurde: Warum strömen die Massen in manche Länder, während sie um andere einen Bogen machen? Welche Rolle spielen Sozialtransfers und Geldleistungen?
Ob Migration belastet oder nicht, liegt daran, wie schnell die Menschen Arbeit finden.
Bisher fiel die Antwort der Wissenschaft darauf recht eindeutig aus: Asylwerber gehen vor all em in Länder, wo sie ein rechtsstaatliches Verfahren erwartet, wo keine strengen Grenzkontrollen zu befürchten sind und wo sie rasch Anschluss an ihre Communities finden. Geld spiele hingegen keine Rolle, hieß es. Nur wenige Forschungsarbeiten stellten diese These infrage. Eine von ihnen stammt aus dem Jahr 2019. Drei Ökonomen der Princeton University haben sich angesehen, wie sich die Senkung der Sozialhilfe in Dänemark auf die Migration ausgewirkt hat. Resultat: Gab es weniger Geld, sank die Zahl der Asylanträge. Doch das Ergebnis blieb umstritten, da Dänemark zeitgleich politisch nach rechts gerückt ist und das Aufenthaltsrecht deutlich verschärft hat. Niemand wusste, ob die Kürzung der Geldleistung allein auch einen Effekt gehabt hätte. Diese Lücke schließt eine Studie aus Österreich.
Gibt Wien zu viel? Die Ökonomin Fanny Dellinger von der Universität Innsbruck und der Migrationsexperte Peter Huber vom Wirtschaftsforschungsinstitut haben eine Untersuchung vorgelegt, in der sie alle anderen Einflussfaktoren ausklammern konnten. Die finale Studie liegt der „Presse am Sonntag“vor. Konkret sehen sich die beiden Wissenschaftler an, welchen Effekt die Kürzung der Mindestsicherung in etlichen Bundesländern auf die Wanderbewegungen in Österreich hatte. Untersucht wurden anerkannte Flüchtlinge in den ersten fünf Monaten nach Abschluss des Asylverfahrens sowie subsidiär Schutzberechtigte. In dieser Zeit ist der Druck auf die Menschen am größten. Sie müssen sich erstmals um eine Wohnung kümmern, dürfen erstmals offiziell arbeiten – und das Bundesland wechseln.
Im Jahr 2017 kürzte Niederösterreich die Mindestsicherung für Asylberechtigte um 30 Prozent. Und der Effekt hatte es in sich: Während der Anteil der Flüchtlinge, die ihr Bundesland Richtung Wien verließen, im restlichen Österreichs sank, stieg er in Niederösterreich an. Ähnliches gilt für subsidiär Schutzberechtigte. In den Bundesländern, in denen sie von der Mindestsicherung ausgeschlossen wurden, erhöhte sich ihre Abwanderungsrate um rund elf Prozentpunkte.
Was bedeutet das? Belegt die Studie, dass die strittige Thes evomWohlfahrts-Magneten doch stimmt? Liefert sie den politisch heiklen Beweis, dass das Unterstützungsniveau in Wien zu hoch oder jenes in Niederösterreich zu niedrig ist? Nein, sagen die Autoren. Auch der Zugang zu leistbarem Wohnraum sei entscheidend. So sorgte etwa die Kürzung der Sozialhilfe für Flüchtlinge im Burgenland zu keiner Abwan