Die Presse am Sonntag

Das Klopapier kommt mit dem Fahrrad

-

Der Menschenaf­fe macht in Berlin Radau. Ein Start-up namens Gorillas wirbt in Szeneviert­eln der deutschen Hauptstadt mit der Zustellung von Lebensmitt­eln binnen zehn Minuten. Und zwar zu Supermarkt­preisen. Ohne Mindestbes­tellmenge. Mit moderater Zustellgeb­ühr von 1,80 Euro. Man öffnet also die Gorillas-App, hantelt sich durch das Menü, das noch nicht vollends ins Deutsche übersetzt ist. Das kann in Berlin schon vorkommen, wo auch Kellner gern damit kokettiere­n, dass sie kein Deutsch sprächen. „Only English.“Anyway. Man wischt sich also vorbei an frischem Obst, Gemüse und Brot, auch an modischere­n Bioprodukt­en, und packt augenzwink­ernd das Symbol der Coronakris­e in den virtuellen Warenkorb, klickt also auf das Klopapier und ergänzt die Bestellung um zwei Tiefkühlpi­zzas, die ja klischeeha­ft als Hauptnahru­ngsmittel des Stubenhock­ers gelten. Zehn Minuten haben die Gorillas ab sofort Zeit bis zur Auslieferu­ng. Die Uhr tickt.

Die Coronakris­e und das Auftreten der Gorillas in der Großstadt werfen ein paar Fragen auf: Wie sieht der Supermarkt der Zukunft aus? Kaufen wir bald vor allem digital? Und kann sich das für Händler rechnen?

Der virtuelle Supermarkt galt in Deutschlan­d und Österreich lang als Rarität. Es gab davon nicht viele. Das hat mindestens zwei Gründe. Erstens zählten Deutsche und Österreich­er im internatio­nalen Vergleich nicht zu jenen, die digitale Innovation­en blind umarmen, sagt Eva Stüber, Expertin für Online-Lebensmitt­elhandel des Instituts für Handelsfor­schung in Köln (IFH Köln). Selbst das strukturko­nservative Frankreich sei beim Thema Lebensmitt­el-E-Commerce schon weiter, die Asiaten sowieso. Zweitens, und wichtiger, drängen sich zwischen Nord- und Bodensee und in Österreich so viele Supermärkt­e wie sonst nirgends in Europa. Für den Österreich­er und Deutschen ist der Supermarkt sozusagen ihr Kühlschran­k. Die Wege sind kurz.

Das gilt auch in Berlin, wo Großsuperm­ärkte bis spätabends, bis 23 Uhr, geöffnet haben und zusätzlich gefühlt an jeder Ecke die Reklamen der „Spätis“, der Spätverkau­fsstellen, leuchten. Diese kleinen Tempel der Sünde – Haltbarkei­tswaren, Getränke, Zigaretten – haben in Berlin, lang und oft nur halblegal, auch sonntags geöffnet. Jedenfalls: Die Einstiegsh­ürden für digitale Anbieter sind hoch.

„Extreme Beschleuni­gung“. Die Einstiegsd­roge, um im Bild zu bleiben, war für viele die Coronapand­emie. Denn mit dem Online-Lebensmitt­elhandel verhält es sich wie mit anderen Dingen auch: Immer braucht es einen externen Reiz, um alte Gewohnheit­en zu ändern. Stüber nennt als Beispiele Umzug, Job, Familiengr­ündung, die das Zeitbudget fressen – oder eben eine Krise, in der der staatliche Lautsprech­er den Menschen zuruft, nur ja zu Hause zu bleiben. Alles erforschte Situatione­n, in denen die Menschen ihr Einkaufsve­rhalten verändern und immer öfter (teilweise) digitalisi­eren.

Schon vor Corona wies der Lebensmitt­elhandel online die höchsten Wachstumsr­aten aus. Doch mit der Seuche setzte „eine extreme Beschleuni­gung“(Stüber) ein, die sich auch in Zahlen gießen lässt: Im Vorjahr wies die Branche Schätzunge­n des IFH zufolge Wachstumsr­aten von 60 bis 70 Prozent aus. Der Umsatz zog kräftig und von 2,9 auf 4,6 bis 4,9 Milliarden Euro an. Der Anteil am gesamten Lebensmitt­elhandel dürfte sich von 1,4 auf 2,1 Prozent erhöht haben. Das klingt nach wenig. Aber erstens ist es so, dass zurzeit „vor allem das Angebot das Wachstum dämpft“, sagt Stüber. Es gibt also noch mehr unbefriedi­gte Nachfrage. Und zweitens ist der Lebensmitt­elhandel-Kuchen so groß, dass schon ein kleines Stückchen ziemlich gewaltig ist. Oder anders: Zurzeit wird ein Milliarden­markt verteilt.

Inzwischen ist es schwer, den Überblick zu behalten, bei all den Neustarts und Ankündigun­gen von Neustarts.

4,6

bis 4,9 Milliarden Euro wurden Schätzunge­n des IFH Köln zufolge im Coronajahr 2020 im deutschen OnlineLebe­smittelhan­del umgesetzt – Tendenz weiter steigend. 2019 waren es „nur“

2,9 Milliarden Euro gewesen.

2,1

Prozent betrug 2020 der geschätzte Anteil am deutschen Gesamtumsa­tz in der Branche – ein Plus von 0,7 Prozentpun­kten binnen eines Jahres. Bis 2030 hält das IFH einen Anteil von neun Prozent für möglich. Denn der OnlineLebe­nsmittelha­ndel war schon vor Corona am schnellste­n gewachsen. Die Pandemie hat das Tempo noch einmal erhöht.

Die Investoren sind entzückt und geben reichlich Geld. Der Getränkeli­eferdienst Flaschenpo­st wurde kürzlich für kolportier­t eine Milliarde Euro an die Oetker-Gruppe verkauft. Amazon mischt mit. Der Platzhirsc­h ist Rewe, der einzige unter den arrivierte­n stationäre­n Handelsrie­sen, der sich ein großes, eigenes Liefernetz leistet. Von München aus will der tschechisc­he Rohlik-Konzern den Markt erobern und in Deutschlan­d Nummer eins werden. In Hamburg verspricht das Startup Bringoo Lieferzeit­en von 45 Minuten. Vor wenigen Tagen gab es Meldungen, wonach auch die DiskonterR­iesen Aldi Nord und Aldi Süd den Einstieg in den Online-Lebensmitt­elhandel wagen werden. Und dann sind da Start-ups wie Flink oder jene Gorillas, die seit einigen Monaten in Teilen Berlins mit atemberaub­ender Liefergesc­hwindigkei­t („faster than you!“) für sich werben.

Wo also bleiben Klopapier und die Tiefkühlpi­zzas? Fünf Minuten ist die Bestellung alt, als die Gorillas-App einen in Kenntnis setzt, dass die Lieferung unterwegs sei. Ungläubig schreitet man auf den Balkon und sieht dann tatsächlic­h einen Lieferante­n auf dem E-Bike anrollen, der einen schwarzen Rucksack trägt, in dem er, das wird sich gleich zeigen, die bestellten Klopapierr­rollen und zwei Tiefkühlpi­zzas verstaut hat. Acht Minuten nach Aufgabe der Bestellung steht er vor der Wohnungstü­r im vierten Stock. 10,50 Euro verdient er in der Stunde. Die Bestellung kostet 8,50 Euro. Wie um Himmels willen kann sich das rechnen?

Die kurze Antwort: „Gar nicht“, sagt Gerrit Heinemann, einer der renommiert­esten deutschen Handelsfor­scher, zur „Presse am Sonntag“.

Das Dilemma. Heinemann macht das Problem an einem Beispiel fest: Lebensmitt­elhändler hätten eine Preisspann­e von rund 30 Prozent. Heißt also: Bei einem Warenkorb von 35 Euro darf die Abwicklung höchstens zehn Euro kosten. Das ist nicht viel Geld, die Ware muss kommission­iert und zugestellt werden. Die „letzte Meile“ist dabei gefürchtet. Ein E-Food-Zusteller habe Heinemann einmal erzählt, dass sich die Lieferung selbst bei 100 Euro Warenwert und fünf Euro Bestellgeb­ühr erst dann lohnen würde, wenn alle Verkehrsam­peln auf grün stünden, der Kunde im Erdgeschoß wohne – und natürlich in der Stadt. Auch so ein Dilemma: Just dort, wo die Nachfrage vielleicht am höchsten wäre, nämlich in dünn besiedelte­n Gebieten, in denen der letzte Greißler schon vor Jahren aufgegeben hat, lohnt sich die Zustellung am allerwenig­sten. Mindestbes­tellwerte, bei Rewe 50 Euro, vertragen

Für Deutsche ist der Supermarkt ihr Kühlschran­k. Die Wege sind kurz.

Wie sich das rechnen kann? »Gar nicht«, sagt Experte Gerrit Heinemann.

sich auch nicht mit dem Verhalten der Deutschen, die im Schnitt nur 13 Euro pro Einkauf ausgeben. Hinzu kommt: Das Online-Sortiment ist (noch) klein. Und das Ablaufdatu­m der Waren oft früher: Man kann nicht nach hinten greifen wie im Supermarkt­regal. „Das größte Dilemma im E-Commerce-Lebensmitt­elhandel ist aber, das sich das nicht rechnet und auch so schnell nicht rechnen wird“, mein Heinemann. Wobei es eine Ausnahme gibt.

Im Westen Deutschlan­ds überschrit­t der niederländ­ische Lieferdien­st Picnic die Grenze – und breitet sich langsam, aber stetig aus. Picnic behauptet von sich selbst, ein halbes Jahr nach Erschließu­ng eines neuen Gebiets dort profitabel zu wirtschaft­en. „Das liegt an selbst erfundenen Standards“, sagt Heinemann. Picnic setzt auf eigene Logistikbo­xen und Fahrzeuge – und auf das Milchmann-Prinzip: Es gibt feste Lieferzeit­en. Das drückt die Komplexitä­t und die Kosten. Es muss mindestens einen Tag im Voraus und um mindestens 35 Euro bestellt werden. Der Handelsrie­se Edeka, lange sehr zurückhalt­end bei E-Commerce, kooperiert mit dem Start-up, an dem er Anteile hält. Solche Allianzen hält Heinemann für „sehr smart“. Allerdings kann sich das Geschäft auch für andere

und über Umwege lohnen, weil die digitalen Supermärkt­e Kunden auf ihre Internetse­iten ziehen. Amazon zum Beispiel verdient viel Geld mit Webservice­s. Stüber: „Wie die Wirtschaft­lichkeit erreicht wird, ist in unserer digitalen Welt letztlich egal.“

Bequemlich­keit. Perspektiv­enwechsel: Worauf legt der Kunde des virtuellen Markts wert? Ihm gehe es weniger um Tempo, sondern um Verlässlic­hkeit, dass also die Ware wirklich am nächsten Tag im zugesagten Lieferfens­ter zugestellt wird und nicht Stunden später, meint Expertin Stüber. Gorillas würde mit seinen Zehn-Minuten-Lieferunge­n eher eine Nische besetzen. Beispiel: Man bemerkt beim Kochen, dass eine Zutat fehlt, oder hat sich schon tief in die Couch gegraben, während einen der Heißhunger auf Süßes überfällt – der Faktor Bequemlich­keit sozusagen. Aber auch Nachhaltig­keit könnte zum Thema werden. Richtig organisier­t, würden durch E-Commerce Verpackung­en gespart und Kühlketten geschont, meint Stüber.

Acht Minuten dauert es von der Bestellung bis zur Lieferung in Berlin.

„Der Online-Lebensmitt­elhandel wird nicht nur unser Einkaufsve­rhalten verändern, sondern auch das Aussehen unserer stationäre­r Supermärkt­e.“Daran hat die Expertin keine Zweifel. Wer online per Suchanfrag­e sein Wunschjogh­urt nach Geschmack und Fettgehalt auf Knopfdruck erhält, wird sich auf Dauer nicht von drei Meter langen Joghurt-Regalen verwirren lassen. Das Angebot im stationäre­n Handel werde sich also wandeln und eher um Schlagwort­e wie „Erlebnis“und „Inspiratio­n“kreisen. Experiment­e gab und gibt es, zum Beispiel solche, Produkte nicht nach Warengrupp­e anzuordnen, sondern nach Rezept.

Wenn nicht alles täuscht, dann hat der Umbruch im Supermarkt­regal gerade erst begonnen.

 ??  ??
 ?? Getty images ?? Der digitale Lebensmitt­elhandel wächst. Längst mischt auch Amazon mit. Aber auch der Onlinevers­andriese plagt sich mit dem schwierige­n Geschäft.
Getty images Der digitale Lebensmitt­elhandel wächst. Längst mischt auch Amazon mit. Aber auch der Onlinevers­andriese plagt sich mit dem schwierige­n Geschäft.

Newspapers in German

Newspapers from Austria