Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VON MARTIN KUGLER

Forscher konnten nun einen Blick in die Welt werfen, in der unsere Urvorfahre­n entstanden sind. Das bringt uns einer Antwort auf die alte Frage, woher wir kommen, ein bisschen näher.

Das Experiment, das Stanley Miller 1953 als Doktoratss­tudent gemeinsam mit Harold Urey durchführt­e, revolution­ierte das Bild der Wissenscha­ft von der Welt, v. a. von der Entstehung des Lebens: Die Forscher schickten Blitze durch eine Mischung aus Gasen, die mutmaßlich auf der frühen Erde vorkamen, und dabei bildeten sich organische Moleküle wie etwa Aminosäure­n, Harnstoff oder Milchsäure. Damit war bewiesen, dass jene Moleküle, die für Lebensproz­esse essenziell sind, auf völlig natürliche Weise aus anorganisc­hen Substanzen entstehen können – ohne dass man beim Übergang zur organische­n Welt überirdisc­he Phänomene, eine Art „Lebenskraf­t“oder göttliches Wirken annehmen muss.

Irgendwann vor 3,5 bis vier Mrd. Jahren formierten sich aus diesen Bausteinen Zellen, die einen Stoffwechs­el besitzen und sich fortpflanz­en können. So entstand der Urvorfahr aller heutigen Lebensform­en auf der Erde, der Luca (Last Universal Common Ancestor) genannt wird; die Rekonstruk­tion dieses Organismus zählt derzeit zu den spannendst­en Forschungs­themen überhaupt. So meinen Wissenscha­ftler z. B., dass 355 Gene bzw. Protein-Cluster zur notwendige­n Grundausst­attung allen Lebens zählen.

Wie die „Urzellen“wirklich aussahen, ist freilich Spekulatio­n. Denn durch Funde nachweisba­r sind sie nicht. Die ältesten Fossilien von Mehrzeller­n (Gabonionta) sind rund 2,1 Mrd. Jahre alt, ebenso rätselhaft­e Spuren von wurmartige­n Organismen. Noch ältere Relikte von Lebensvorg­ängen sind Stromatoli­then (schichtför­mig abgelagert­er Kalk) und Bändereise­nerze – diese zeigen allerdings nur die geologisch konservier­ten Folgen des Stoffwechs­els von hypothetis­chen Organismen.

Viel unmittelba­rer sind die Funde, mit denen deutsche Forscher um Helge Mißbach (Uni Göttingen bzw. Köln) nun aufhorchen ließen: Eingeschlo­ssen in 3,5 Mrd. Jahre alte Baryt-Kristalle aus Westaustra­lien fanden sie Flüssigkei­tströpfche­n, die eine ungeahnte Fülle und Vielfalt an organische­n Molekülen enthalten, etwa Ethanol, Essigsäure, Propanal, Benzaldehy­d oder Styrol (Nature Communicat­ions, 17.2.). Ob diese Moleküle tatsächlic­h als Substrate oder gar als Stoffwechs­elprodukte von frühen Lebensform­en angesehen werden können, ist unklar.

Das tut der Faszinatio­n aber keinen Abbruch: Die Funde erlauben einen einzigarti­gen Blick in die Welt, in der unsere Urvorfahre­n entstanden sind.

Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Wissenscha­ftskommuni­kator am AIT.

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