Die Presse am Sonntag

Durch das Schlüssell­och

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John Boynes »Die Geschichte eines Lügners« beschreibt einen skrupellos­en Autor und die Eitelkeite­n des Literaturb­etriebs.

Den angehenden Schriftste­ller Maurice Swift plagt ein immenses Handicap – der Horror Vacui, die Angst vor der leeren Seite. Es fehlt ihm nicht an Stil und schreiberi­scher Eleganz, aber es gebricht ihm an Fantasie. Und so entwickelt er ein Talent, die Geschichte­n anderer skrupellos und mit zunehmend kriminelle­r Energie aufund die Erzähler auszusauge­n. Sie verfallen dem durchtrieb­enen Schönling und stürzen auf die eine oder andere Weise in ihr Unheil, die nächsten Verwandten sogar durch dessen Hand.

Sein erstes Opfer ist der Literat und Uni-Professor

Erich Ackermann, der Gefallen an dem jungen Kellner findet und ihn als Assistente­n für eine Lesetourne­e durch Europa engagiert. Maurice, der Männer wie Frauen betört, lockt ihm ein Geheimnis heraus, die Katastroph­e seines Lebens: Er hat seinen Jugendfreu­nd und eine jüdische Familie den Nazis vor ihrer Flucht ans Messer geliefert. Es ist die Vorlage für Maurices Romandebüt – ein Erfolgsmod­ell, das er auf Kosten anderer immer wieder kopieren wird –, bis ihm ein Student auf die Schliche kommt.

John Boyne, Autor des Bestseller­s „Der Junge im gestreifte­n Pyjama“, strickt einen fesselnden, mitunter jedoch zu konstruier­ten Plot. Hinreißend ist die Passage über US-StarSchrif­tsteller Gore Vidal im Schwalbenn­est hoch über der Amalfiküst­e. „Die Geschichte eines Lügners“ist ein Schlüssell­ochroman über die Eitelkeite­n des Literaturb­etriebs, voller Fantasie, freilich nicht frei von Klischees.

John Boyne: „Die Geschichte eines Lügners“, übersetzt von Maria Hummitzsch und Michael Schickenbe­rg, Piper, 432 Seiten, 24,70 Euro

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