Die Presse am Sonntag

»Die emotionale Distanz zu den Opfern ist stärker geworden«

Die deutsche Sozialpsyc­hologin, Soziologin und Cybermobbi­ng-Expertin Catarina Katzer über die Gefahr des virtuellen Mobbings und die gesellscha­ftliche Verantwort­ung.

- VON KARIN SCHUH

Sind Mädchen und junge Frauen von Cybermobbi­ng stärker betroffen? Und wenn ja, warum ist das so?

Catarina Katzer: Da hat sich in den letzten Jahren ein Wandel vollzogen. Als wir die ersten Studien vor zehn, 15 Jahren gemacht haben, waren eher Jungs in Mobbing und Cybermobbi­ng involviert. In den letzten Jahren hat sich aber gezeigt, dass Mädchen deutlich häufiger Opfer und auch Täterinnen werden. Das hat damit zu tun, dass sie stark in sozialen Netzwerke,n in diesen Selbstdars­tellungspl­attformen involviert sind. Mädchen sind deutlich abhängiger als Jungs von der Kommunikat­ion in diesen Netzwerken. Was andere über sie denken, ist extrem wichtig für ihr Selbstwert­gefühl, gerade in der Pubertät, wenn sie ihr Ich entwickeln und ihre Sexualität.

Zeigt sich das auch bei den jungen Influencer­innen?

Ja, das sind meist Mädchen, die schon ein bisschen älter sind. Sie stehen extrem in der Öffentlich­keit und sind sehr sensibel in Bezug auf die Reaktionen der anderen. Wenn die Bewertunge­n gut sind, fühlen sie sich sehr schnell sehr gut, aber kommen negative Zuschrifte­n, sind die extrem gefährlich, weil sie das so ernst nehmen.

Was betrifft noch speziell Mädchen?

Sie sind im Bereich des relational­en Cybermobbi­ngs stark involviert, also wenn sie aus einer Gruppe ausgeschlo­ssen werden. Mädchen werden häufig verleumdet, es werden Lügen verbreitet, sie werden als Schlampe dargestell­t, auch gefakte Fotos spielen eine Rolle oder Fotos aus dem intimen, privaten Bereich, die dann veröffentl­icht werden. Das ist alles über soziale Medien schnell machbar und hat eine extrem schädliche Wirkung, weil wir auch eine vollkommen neue Opfersitua­tion haben. Der Öffentlich­keitsgrad ist so hoch, sie können sich nicht verstecken, es kann nicht gelöscht werden. Es ist eine Art Endlosstig­matisierun­g, weil bestimmte Dinge immer wieder auftauchen können. Mit dem Smartphone trägt man den Täter, die Täterin ständig bei sich. Das sind Dinge, die die psychologi­sche Dramatik für die Opfer so groß machen. Die Suizidgeda­nken sind deutlich gestiegen in den letzten Jahren, in Deutschlan­d ist es ein Viertel der Opfer, das solche Gedanken hegt.

Dass Mädchen als Schlampe bezeichnet werden, gab es ja schon, da gab es noch gar kein Internet. Die Inhalte sind also gleich geblieben, nur die Technik hat sich verändert.

Genau, bei den Mädchen sind es die Schlampen, bei den Jungs ist es der Schwächlin­g oder der Homo. Das war vorher auch schon der Inhalt von Mobbinghan­dlungen, aber es hat sich die Technologi­e verändert. Die Art, wie man es macht, ist hinterhält­iger geworden. Man kann sich besser dahinter verstecken. Früher war das aufwendige­r, jetzt muss ich nur vor meinem Screen sitzen. Das Befinden der Täterschaf­t hat sich geändert. Die emotionale Distanz zu sich selbst – was tue ich hier eigentlich – und die emotionale Distanz zu den Opfern ist stärker geworden. Die Trennung von der Handlung und meinem physischen Wesen schafft diese Distanz. Man fühlt sich selbst nicht als Täter, weil man die Auswirkung nicht sieht.

Wer sind denn die Täter? Und was sind ihre Motive?

Viele waren selbst schon einmal Opfer, auch von normalen Mobbinghan­dlungen. Cybermobbi­ng ist zum Teil auch ein Mechanismu­s geworden von Menschen, die sich wehren, die sagen, sie wollen auf die andere Seite und nicht nur Opfer sein. Es gibt auch eine große Gruppe von Täterinnen und Tätern, die Spaß möchten und Langeweile haben, die das gern machen. Aber die größte Gruppe hat die Motivation zu sagen, die Person hat es verdient. Das ist auch ein Wandel in den letzten Jahren. Dieser aggressive Umgang ist ein salonfähig­es Verhalten geworden. Es gibt auch kein Schuldgefü­hl, weil die Person es ja verdient hat. Das ist ein bedenklich­er Wandel.

Gibt es mehr Täter oder Täterinnen?

Das ist schwer zu sagen, es gibt dazu unterschie­dliche Studien. Zum Teil zeigen Studien, dass Mädchen mehr involviert sind als Jungen. Es gibt aber auch Studien, die sagen, gerade Jungen machen bestimmte Mobbingfor­men besonders häufig: alles, was mit Fotos und Videos zu tun hat zum Beispiel. Auch die Art des Mobbings ist also unterschie­dlich. Man muss aber auch beachten, dass sich Mädchen eher dazu äußern, sie geben öfter zu, Opfer oder Täterin zu sein.

Und gibt es unterschie­dliche Arten des Mobbings, je nach Altersgrup­pe?

Die Gruppe der 14- bis 16-Jährigen ist generell am stärksten betroffen. Und am meisten kommen insgesamt Beschimpfe­n, Beleidigen, Verleumden, Lügen verbreiten und Hetzen vor, aber auch das Phänomen der Hassgruppe auf WhatsApp zum Beispiel, dass über eine Person Böses verbreitet wird, aber die Person kommt nicht in die Gruppe hinein. Wir wissen aus neueren Studien, dass immer mehr Jüngere involviert sind, also Grundschül­er, weil sie auch die technische Ausstattun­g haben. Die Technik ist kinderleic­ht geworden, aber Kinder können nicht abschätzen, was für Auswirkung­en das hat. Man macht das vielleicht, weil man es gerade lustig findet oder sich ein bisschen geärgert hat oder es ausprobier­en will und weiß gar nicht, was dahinterst­eckt. Dieses Bewusstsei­n ist nicht vorhanden.

Wie sieht es mit jungen Erwachsene­n aus, das ist ja auch bei Studenten ein Thema?

In den sogenannte­n kritischen Lebensphas­en gibt es einen deutlichen Peak, wo es am häufigsten vorkommt. Das ist in der Pubertät und beim Übergang von Schule zu Beruf oder Studium. Also da, wo man einen Wandel durchläuft, ein neues Leben beginnt, unsicher ist oder auch eine Art Kontrollve­rlust erlebt. Gerade im Studentenm­ilieu, das zeigt sich weltweit, führen Konkurrenz­denken, Wettbewerb und Neid dazu, Leute aus einer Gruppe zu drängen oder anders zu mobben.

Was kann man dagegen tun? Bei Jüngeren sind Programme in der Schule wichtig, wie in Norwegen. Und bei den Älteren?

Ja, in den nordischen Ländern gibt es viele Prävention­sprogramme, wie das Olweus-Programm oder Kiva in Finnland. In Deutschlan­d haben wir ein sehr gutes Programm, die Medienheld­en. In den Niederland­en gibt es seit 2016 eine Verpflicht­ung aller Schulen, Cybermobbi­ngPräventi­on zu betreiben. Das wirkt, das zeigt sich bei den Zahlen der Betroffene­n.

Und wie kann man sich ganz generell, also auch außerhalb der Schule, schützen?

Da sind drei Punkte wichtig: Zum einen muss man selbst ein gewisses Schutzverh­alten lernen. Man muss darauf achten, wem man was schickt, vor allem bei intimen, privaten Dingen. Der zweite Punkt ist, das Umfeld generell für diese Thematik zu sensibilis­ieren, das heißt, dass wir viel mehr über dieses Thema offensiv kommunizie­ren. Und der dritte Punkt ist, sich selbst eigene Grenzen beim Onlineverh­alten zu setzen, zu überlegen: Wie gehe ich eigentlich mit anderen um, bin ich schnell beleidigt, wie reagiere ich, wenn ich ungeduldig werde?

Vielen ist es in dem Moment wohl auch nicht bewusst, oder? Man denkt vielleicht, man macht ein Witzchen, und dann kommt es anders an.

Ja, deshalb ist es so wichtig, einen Spiegel vorzuhalte­n. Es gibt eine Grenze, der Beginn ist oft leicht und nicht bösartig, das kann sich schnell anders entwickeln. Und da muss man ansetzen. Es geht darum, eine gewisse SelfAwaren­ess, eine Selbst-Aufmerksam­keit zu schulen. Und es ist wichtig, Betroffene zu unterstütz­en. Die digitale Zivilcoura­ge ist für einen selbst wichtig, aber auch für die Gesellscha­ft.

Weiß man schon, wie das in der Coronakris­e ist? Wird Cybbermobb­ing derzeit mehr?

Wir haben schon in der ersten Welle vermutet, dass es durch den Lockdown zunehmen wird. Wir sehen in der zweiten Welle einen deutlichen Anstieg von Aggression­en, das hat sicher mit dem generellen Kontrollve­rlust zu tun.

Was tut man im konkreten Fall, wenn man betroffen ist und das gerade entdeckt? Viele wollen das ja nicht ansprechen, weil sie sich genieren.

Ja, und das ist das Problem, viele schämen sich und geben sich selbst die Schuld. Es wird ja auch gefragt: „Was hast du denn gemacht, dass so etwas passiert?“Deswegen verstecken sich viele, aber das ist ein Fehler. Man muss das Schweigen brechen, man muss offensiv vorgehen, seine Freunde informiere­n, ihnen sagen, da passiert etwas, das nicht okay ist. Und man muss die Dinge dokumentie­ren und an die Provider schicken. Das Allerwicht­igste ist: Nicht schweigen, sondern offensiv damit umgehen, denn ein Betroffene­r ist nicht schuld. Es ist auch gesamtgese­llschaftli­ch wichtig zu sagen: Das ist ein Verhalten, das wir nicht dulden, das nicht in Ordnung ist. So geht man mit Menschen nicht um.

Catarina Katzer

ist Sozialpsyc­hologin, Soziologin und Expertin für Cybermobbi­ng. Sie leitet das Institut für Cyberpsych­ologie und Medienethi­k in Köln und ist u. a. als Expertin für Kommission­en des Europarate­s sowie des Deutschen Bundestage­s tätig. www.chatgewalt.de

in Fährschiff gleitet an die Mole von Rumeli Kava i, die letzte Anlegestel­le am europäisch­en Ufer des Bosporus. Der Matrose wirft ein Tau nur locker um den Poller, denn die Fähre wird gleich wieder ablegen zur Rückfahrt.

Yörük I ık beeilt sich, an Land zu kommen – nur um dort seine Fahrkarte in das Drehkreuz zu stecken und sofort wieder an Bord zu klettern. I ık ist praktisch Stammgast auf den Bosporus-Fähren, doch er versäumt es nie, die etwa 50 Cent zu bezahlen, die eine Fahrt durch den Bosporus kostet – einmal vom Marmaramee­r bis zum Schwarzen Meer oder umgekehrt. Man bedenke, was er für das Fahrgeld bekomme, sagt der vierschröt­ige Mittvierzi­ger, während er keuchend die enge Schiffstre­ppe erklimmt und sich an der Reling postiert: Von hier aus könne er beobachten, „was in der Welt geschieht und was demnächst geschehen wird“. Die Weltenläuf­e sind von dieser Reling aus zu sehen – man muss sie nur erkennen und verstehen.

YörükI ık ist dafür gut ausgerüste­t. Warm eingepackt gegen den eisigen Seewind, trägt er um den Hals gehängt eine Kamera mit ellenlange­m Objektiv, um die Schiffe in der etwa 700 bis 3400 Meter breiten und 30 Kilometer langen Meerenge heranzoome­n zu können. In der Hand hält er ein Smartphone mit einer App zur Satelliten­verfolgung von Schiffen, die er sogleich öffnet, um das nächste Schiff zu identifizi­eren, bevor es in Sicht kommt. „Hier sind wir, und da kommt das Schiff – die General Aslanov, ein Frachter unter aserbaidsc­hanischer Flagge“, erklärt er die Grafik auf dem Bildschirm, bevor er die Kamera hebt und das nahende Schiff in den Sucher nimmt. „Wahrschein­lich ein normaler Frachter, aber ich mache mal ein Foto, man kann nie wissen.“

Der Weg der Schiffe. Aus seinen detaillier­ten Nahaufnahm­en von Schiffen auf dem Bosporus hat I ık schon viel erfahren, zum Beispiel, welche neuen Radar- und Waffensyst­eme die russische Marine eingeführt hat. Was er erfährt, vermeldet der „Shipspotte­r“(Schiffe-Beobachter) auf Twitter, wo ihm gleichgesi­nnte Enthusiast­en speziell rings um das Schwarze Meer und am Mittelmeer folgen und ihre eigenen Informatio­nen teilen. Aus seinen Fotos, den Satelliten­daten und diesen Twitter-Meldungen kann Is¸ık sich ein Bild davon machen, was die Schiffe und die Staaten der Region im Schilde führen. „Open Source Intelligen­ce“– geheimdien­stliche Informatio­n aus offenen Quellen – nennt sich das, kurz |Osint, und es funktionie­rt wie ein Mosaik: Aus vielen einzelnen Beobachtun­gen entsteht ein neues Bild.

Was sich auf dem Bosporus abspielt, das hat Auswirkung­en weit über diese Weltregion hinaus – und wenn es nur das Wetter ist: Hängt hier Nebel über dem Wasser und muss die Meerenge für Schiffe gesperrt werden, steigen weltweit die Weizen- und Ölpreise, weil die Fracht ausbleibt. 50.000 Schiffe fahren jährlich durch den Bosporus, und jedes hat eine Geschichte. „Die meisten sind ehrbare Handelssch­iffe, aber fast täglich fährt auch ein abenteuerl­iches Schiff durch, das vielleicht etwas Illegales geladen hat oder irgendwelc­he Gesetzeslü­cken ausnutzt oder aus anderen Gründen nicht auffallen will“, erzählt Yörük Is¸ık. „Ihren Geschichte­n spüre ich nach.“

Von Spionage und Waffenschm­uggel bis zu Umweltsünd­en und Tierquäler­ei reichen die Geschichte­n, denen Is¸ık auf die Spur kommt. „Wir sehen hier also ein Schiff, und wir sehen einen Container darauf“, erklärt er den Prozess am Beispi el von Handfeuerw­affen, die in Osteuropa hergestell­t

BULGARIEN

GR

Unten: Zwei russische Landungssc­hiffe der Ropucha-Klasse. und von manchen Staaten in ihren Stellvertr­eterkriege­n im Nahen Osten eingesetzt werden. „Wir können den Container verfolgen und feststelle­n, dass er in einem Hafen in Saudiarabi­en umgeladen wird auf ein anderes Schiff, das in den Jemen fährt.“Aus ihren Fotos, Meldungen und Satelliten­daten könnten die Osint-Beobachter so die Fährte einer Waffe von Serbien oder Bulgarien bis zum Einsatz im Jemen oder in Syrien lesen.

Analyse früher Anzeichen. Yörük Is¸ık und seine Osint-Gemeinde sind dadurch über aktuelle Entwicklun­gen der internatio­nalen Politik oft schon früher im Bilde als Politiker und Diplomaten in den Hauptstädt­en der Welt. „Dass Russland Venezuela gegen die amerikanis­chen Sanktionen beistehen würde, wussten wi schon lang, bevor das russische Außenminis­terium es

Wenn Nebel über dem Bosporus hängt, steigen die Weizen- und die Ölpreise.

bekannt gegeben hat. Weil wir ein mit Weizen beladenes Schiff aus Novorossiy­sk nach Venezuela fahren sahen“, erzählt Is¸ık. „Wir wussten auch als Erste, dass Russland in Syrien militärisc­h intervenie­ren würde.“Lang bevor das öffentlich wurde, beobachtet­e die Osint-Gemeinde, dass russische Schiffe Militärger­ät nach Syrien brachten.

„Ja, indem man hier einfach auf einer Passagierf­ähre sitzt und die Augen offenhält, kann man nicht nur analysiere­n, was in der Welt geschieht, sondern auch vorhersage­n, was geschehen wird“, sagt Is¸ık. Eigentlich könnte das jeder machen, meint er – er selbst betreibt es neben seinem Beraterber­uf als Hobby, und die Kosten beschränke­n sich auf die Fahrkarten.

Und dennoch gleiten die Schiffe mit ihren teilweise weltpoliti­sch sensatione­llen Geschichte­n fast unbemerkt mitten durch Istanbul; kaum einer der 16 Millionen Einwohner sieht richtig hin.

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Privat
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Yörük I¸sık Der US-Zerstörer USS Ross in der Meerenge, April 2019.

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