Die Stunde des Scharlatans
Der Scharlatan spielt mit den Hoffnungen und Verführbarkeiten des Menschen. In der Krise hat er Konjunktur. Mit seiner Wortgewalt verdreht er die Wahrheit und schießt die Gehirne sturmreif. Über Pseudowissenschaftler, Populisten und Quacksalber.
sich auf bemerkenswerte, aber vergessene Bücher der Vergangenheit spezialisiert hat, uns an die wegweisende kulturhistorische Studie „Die Macht des Charlatans“von 1937 zu erinnern. Die jüdisch-österreichische Gelehrte Grete de Francesco (1893–1945) erzählt hier wort- und sprachmächtig über Alchimisten und Goldmacher, Salbenkrämer und Schwarzkünstler, „Wundermänner“und Meisterfälscher in der Renaissance und im Barock. Nach ihrer Ermordung durch die Nazis 1945 wurde ihr Buch, das von Thomas Mann gewürdigt wurde und in den USA viel Aufmerksamkeit bekam, vergessen, genauso wie die Autorin selbst.
Als Lehnwort aus dem Italienischen (ciarlatano) trifft man auf den Scharlatan ab dem 16. und 17. Jahrhundert, den Typus gab es freilich schon früher. Im deutschsprachigen
Sie beherrschten das theatralische Repertoire, um das Publikum zu hintergehen.
Raum schrieb man ihn bis ins 20. Jahrhundert „Charlatan“. Fast immer war der Begriff auf die Heilkunde beschränkt und bezeichnete fahrende Händler von Arzneimitteln, später auch Ärzte, denen man vorwarf, mit unlauteren Mitteln und in betrügerischer Absicht ein Wissen vorzutäuschen, über das sie gar nicht verfügten, und Therapien anzuwenden, die nicht kurierten. Sie beherrschten das theatralische Repertoire, um das unwissende Publikum zu hintergehen, ahmten mimetisch die wirklichen Ärzte nach, verwendeten „Fachausdrücke“in erfundenem Latein, oft traten sie gemeinsam mit Akrobaten oder Tiervorführern auf Marktplätzen auf und zeigten Taschenspielerkünste.
Der „Marktplatz der Heilkunst“war noch nicht sehr normiert, marktschreierische Außenseiter, die ihren Geldbeutel füllen wollten, stießen auf akademisch gebildete Mediziner, die ihr Revier mit juristischen Mitteln und Polemiken verteidigten. In die Geschichte ging jener namenlose deutsche Quacksalber ein, der bei seinen
Patienten stets eine Krankheit namens „Scharbock“diagnostizierte. Vergeblich waren die Gegenargumente der gelehrten Mediziner. Sie fügten sich schließlich und gaben der Pseudokrankheit in ihren Büchern den Namen „Scorbutum“. So drang eine erfundene Krankheit wider besseres Wissen der Ärzte in den gelehrten Diskurs ein und wurde schließlich zur Bezeichnung für eine Vitaminmangelkrankheit.
In der Commedia dell’arte wurde der Scharlatan zur beliebten Figur. Ein Besenbinder übernimmt in Molie`res Komödie „Le Me´decin malgre´ de lui“(1666) die Rolle eines Arztes, beeindruckt mit einem aberwitzigen Wortschwall erfundener lateinischer Wörter und denunziert so auch die soziale Taktik der realen Gelehrtenwelt, sich mit sprachlichen Mitteln abzuschlie
zu vergewaltigen“, wie Joseph Roth in seiner Rezension des Buches schrieb. Und weiter: „Der Leser empfindet nach der Lektüre dieses Buchs ein unsagbares Heimweh jener Zeit, in der Scharlatane auf den öffentlichen Märkten nur Zähne ziehen durften und in der selbst die Brigadinos und Cagliostros noch nicht die Macht hatten, das Rheinland zum Beispiel zu besetzen oder Abessinien zu erobern.“
Grete de Francesco macht in ihrem Buch nirgends eine politische Anspielung auf die Gegenwart der 1930er-Jahre. Doch ihr Wunsch, unter der Tarnkappe einer historischen Kulturgeschichte auf den Irrsinn der faschistischen Diktatoren ihrer Zeit hinzuweisen, ist für den aufmerksamen Leser bemerkbar. Erst recht ist ihre Darstellung der Meisterfälscher übertragbar auf die alternativen Fakten-Bastler unserer Gegenwart.
Nicht nur seine Salben und Elixiere, sondern auch seine Sprache ist Fälscherware.
De Francescos Mann war Südtiroler, sie war abgestoßen vom faschistischen System, rechnete mit bitteren Worten mit Mussolinis Neuem Italien ab, lebte als ständige Ausländerin einmal in Wien, Mailand, Berlin, lernte viele Künstler und Intellektuelle kennen, von Walter Benjamin bis Ernst Bloch, und erwarb sich autodidaktisch einen großen geistigen Horizont.
Im Exil. Doch wie die Figuren ihres Scharlatan-Buches gehörte sie selbst nirgends dazu, das Exil wurde ihr Dauerzustand. Ohne je sesshaft zu werden, lebte sie in einem „ambulanten Dauerprovisorium“, wie Volker Breidecker in dem informativen Nachwort schreibt. Der Essay rekonstruiert Leben und Werk Grete De Francescos. Die Weltbürgerin fiel auch durch das feinmaschige Netz der Exilforschung. Ihr bedeutendes „Charlatan“-Buch verschwand in der NS-Zeit aus den Bibliothekskatalogen, Autorin und Buch gerieten für ein halbes Jahrhundert in Vergessenheit. Man muss für die Neuerscheinung dankbar sein.