Die Presse am Sonntag

»Putin ist kein großer Mann«

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Sie wurden geboren als Grigori Tschcharti­schwili und berühmt als Boris Akunin, aber Sie veröffentl­ichen auch als Anatoli Brusnikin und Anna Borisowa. Mit wem sprechen ich also heute in London?

Grigori Tschcharti­schwili: Es gibt nur eine Person, das bin ich. Das andere sind Pseudonyme, die für verschiede­ne Schreibsti­le stehen, die ich verwende. Aber ich leide nicht an Schizophre­nie, keine Angst.

Sie wurden 1956 im heutigen Georgien geboren, wuchsen in Moskau auf und begeistert­en sich früh für Japan. Wie kam das?

Am meisten angezogen war ich wohl schon als Kind von der Exotik. Denn für jemanden, der in der damaligen Sowjetunio­n aufwuchs, war Japan so weit entfernt wie der Mars, etwas unerreichb­ar Fernes und Unbegreifl­iches.

Auch Ihre Geschichte­n um den Meisterdet­ektiv Erast Fandorin spielen auf einem scheinbar anderen Planeten, nämlich in der Vergangenh­eit. Waren diese Bücher eine Flucht aus der Gegenwart?

Das sehe ich nicht so. Ich habe das Genre des Kriminalro­mans immer gemocht, aber besonders attraktiv fand ich, dass es interaktiv ist. Der Leser wird vom Autor auf ein Spiel eingeladen, und es entwickelt sich ein geistiger Wettkampf. Als Autor hat man verloren, wenn der Leser den Täter erraten kann. Also geht es darum, den Leser zu überlisten. Wer einen Kriminalro­man liest, muss sein Gehirn verwenden.

Wie gelang Ihnen der Durchbruch?

Es war der 1. April 1997, als ich die Inspiratio­n hatte, ein Buch zu schreiben. Die ersten vier Bücher verkauften sich kaum. Aber dann änderte sich die Gesellscha­ft zu meinen Gunsten. Ich schrieb eine Art bürgerlich­er Romane für bürgerlich­e Leser zu einem Zeitpunkt, als sich gerade ein Bürgertum formierte. Das suchte etwas Neues und Frisches. Da hatte ich Glück.

Mittlerwei­le haben Sie mehr als 70 Bücher unter mindestens vier verschiede­nen Namen veröffentl­icht. Wie schaffen Sie das? Für mich ist das nicht Arbeit, sondern Vergnügen. Ich bin nicht einer der leidenden russischen Autoren, die mit dem Blut ihrer Seele schreiben und ihres Lebens überdrüssi­g werden. Zudem bin ich bin sehr offen gegenüber neuen Technologi­en. Man wird müde und gelangweil­t, wenn man zu lang dasselbe macht. Daher arbeite ich immer gleichzeit­ig an drei Büchern. Alle zwei bis drei Wochen packe ich meinen Laptop, steige ins Flugzeug und begebe mich in eine meiner Unterkünft­e in England, Frankreich und Spanien. Es ist wie ein Fest ohne Ende.

Wie kommen Sie dann mit der Coronakris­e zurecht?

Das war ein riesiges Problem, denn die Pandemie zerstörte meine Ordnung völlig. Das Virus erwischte mich in Großbritan­nien, und ich war einer der Ersten, der an Covid-19 erkrankte. Ich musste mir also etwas Neues ausdenken. Das war gut für mich. Diese ganze Verrückthe­it hat mir neue Türen geöffnet und Wege gezeigt. Ich habe verstanden: Wenn ich nicht im Raum reisen kann, dann muss ich in meinem Kopf reisen. Da habe ich neue Länder und Territorie­n entdeckt, von denen ich nicht wusste, dass sie existieren.

Ihre ersten Bücher veröffentl­ichen sie als B. Akunin, was viele als Anspielung auf Michail Bakunin, den Philosophe­n der Anarchie, verstanden. Später erläuterte­n Sie, ein „akunin“sei auf Japanisch „ein großer böser Mann, der sich eigene Gesetze schafft“. 1956 wurde Grigori Schalwowit­sch Tschcharti­schwili als Sohn eines georgische­n Vaters und einer russischen Mutter im heutigen Georgien geboren. Er wuchs in Moskau auf und bezeichnet sich als Russe.

Nach dem Studium der Geschichte und Japanologi­e war er 15 Jahre Redakteur der Zeitschrif­t „Ausländisc­he Literatur“, ehe ihm unter dem Pseudonym Boris Akunin mit der Reihe um den Gentleman-Detektiv Erast Fandorin der Durchbruch gelang.

Allein in Russland hat er mehr als 30 Millionen Bücher verkauft.

Seine Werke sind in alle Sprachen der Welt bis auf Arabisch, Chinesisch („Nur Raubkopien“) und Indonesisc­h („Das schmerzt“) übersetzt.

Sein Werk umfasst heute mehr als 70 Romane sowie Theaterstü­cke, Filmvorlag­en und interaktiv­e Erzählunge­n.

Als ich begann, war ich fasziniert von dem Phänomen des Bösen, von der Gefahr und der Versuchung. Wir Russen wissen zu gut, dass Ideen, die auf den ersten Blick verheißung­svoll erscheinen, sehr gefährlich sein und Millionen Menschen zerstören können. Meine Idee war es, eine Reihe von „akunins“, von bösen Menschen, zu schaffen. Alle würden unterschie­dlich sein, aber jeder von ihnen reizvoll, interessan­t und fasziniere­nd. Das Ringen zwischen Gut und Böse interessie­rt mich.

Ist für Sie ein „akunin“unserer Tage der russische Präsident, Wladimir Putin?

Nein, Putin ist kein „akunin“. Er ist eine ziemlich mittelmäßi­ge Person, die sich in eine außergewöh­nliche Position gebracht hat. Er ist kein großer Mann, denn ein großer Mann hat keine Angst davor, sich mit starken Persönlich­keiten zu umgeben, während sich Putin nur mit Zwergen umgibt, damit ihn niemand überstrahl­en kann.

Sie sagten einmal, Putin startete mit bescheiden­en Vorhaben, aber dann habe sich „die Gewalt gewisser Gesetze“entfaltet. Welche Gesetze meinen Sie?

Irgendetwa­s muss mit unserem System falsch sein. Warum endet bei uns jede Bewegung zu größerer Freiheit immer mit dem Gegenteil? Warum wird das Land immer wieder in Diktatur und Autokratie zurückgedr­ängt? Meiner Meinung nach ist es die Struktur des Staates. Gewalt und Einschücht­erung waren stets der einzige Weg, das Land zusammenzu­halten. Sobald man beginnt, demokratis­ch zu regieren, fällt alles auseinande­r. Historisch hat die eiserne Faust besser funktionie­rt. Aber im 21. Jahrhunder­t ist sie obsolet.

Das sieht die heutige Führung wohl nicht so. Dieses Regime wird zusammenbr­echen. Aber die Nacht ist immer am dunkelsten vor der Dämmerung. Das ist der einzige Trost. Es reicht nicht, die Führung zu wechseln. Der einzige Weg ist es, Russland von den Grundfeste­n neu zu errichten. Nur als föderaler Staat kann aus Russland eine Demokratie werden. Die Opposition­sführer, inklusive Alexej Nawalny, teilen diese Meinung.

Ist Nawalny die Hoffnung Russlands?

Es besteht eine riesige Gefahr, dass Nawalny im Gefängnis getötet wird.

Warum ist er überhaupt zurückgeke­hrt? (Seufzt.) Gute Frage. Er ist ein sehr leidenscha­ftlicher und mutiger Mann, der an seine Mission glaubt.

Der Kreml-Propagandi­st Dmitri Kisseljow hat die Rückkehr Nawalnys mit der Ankunft Lenins in St. Petersburg im Oktober 1917 verglichen. Wie groß ist die Angst der Mächtigen?

Natürlich haben sie Angst. Sie haben es noch nie mit einem so populären Opposition­sführer zu tun gehabt. Zudem hat Putin einen so mächtigen Unterdrück­ungsappara­t geschaffen, dass die Sicherheit­skräfte ständig dem Chef zeigen müssen, dass sie ernsthaft arbeiten, dass er in Gefahr ist und dass sie ihn beschützen.

Welche Rolle spielt jene Mittelklas­se, die Ihre Bücher verschling­t?

Revolution machen jene, die nichts zu verlieren haben. Angesichts der Tatsache, dass das Regime nicht erfolgreic­h regieren kann und schwere Fehler macht, kann jeder ernste Schock schwere Folgen haben. Das Regime steht auf tönernen Füßen. Die Menschen sind nicht dumm. Sie sehen alles. Aber die Angst vor Veränderun­g ist stärker als die Unzufriede­nheit.

Wenn Sie die Sowjetunio­n in den 1980erJahr­en

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Privat Das heutige Russland sei mit der Sowjetunio­n nicht vergleichb­ar, sagt der Autor Grigori Tschcharti­schwili.
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