Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VON MARTIN KUGLER

Nicht nur durch Düngemitte­l und Abwasser gelangen (zu) große Stickstoff­mengen in die Ostsee, sondern auch durch die Luft.

Von Natur aus ist die Ostsee nährstoffa­rm. Romantisch­e Autoren schwärmten einst vom klaren Wasser – man konnte den Meeresbode­n in zehn Metern Tiefe sehen. Das hat sich geändert. Oder besser gesagt: Das haben wir Menschen geändert. Seit es künstliche Düngemitte­l gibt, ist die Menge an Nährstoffe­n – v. a. von Stickstoff – in der Natur stark gestiegen, sodass es vielerorts zur Überdüngun­g kommt. Auch in den Meeren, wohin überschüss­iger Dünger im Endeffekt ausgespült wird. Schlimm betroffen davon ist die Ostsee – ein Nebenmeer des Atlantiks, das fast ausschließ­lich von rund 200 einmündend­en Flüssen gespeist wird und dessen Wasser daher einen niedrigere­n Salz- und einen höheren Schadstoff­gehalt als der Atlantik aufweist.

Der viele Stickstoff führt zur Massenverm­ehrung von Algen. Abgestorbe­ne Zellen sinken dann zu Boden und werden unter hohem Sauerstoff­verbrauch abgebaut. Dadurch bilden sich sogenannte „Todeszonen“, in denen keine Pflanzen und Fische (die Sauerstoff benötigen) mehr existieren können, sondern nur mehr anaerobe Bakterien. Rund ein Sechstel der Ostsee gilt derzeit als lebensfein­dlich.

Das Problem wurde erkannt: 1974 unterzeich­neten alle Anrainerst­aaten die HELCOM-Konvention zum Schutz der Ostsee. Das zeigte Wirkung – v. a. nach dem Ende der Sowjetregi­me in Osteuropa, die sehr verschwend­erisch mit Dünger umgingen, und durch den Bau von Kläranlage­n. Der Höhepunkt des Stickstoff­eintrags durch Flüsse waren fast 900.000 Tonnen im Jahr 1998; im Schnitt der letzten zehn Jahre waren es rund 620.000 Tonnen.

Es gibt aber noch eine zweite Seite: Laut einer Gruppe skandinavi­scher Forscher um Michael Gauss unter Beteiligun­g des Instituts für Angewandte Systemanal­yse (IIASA) in Laxenburg werden zusätzlich über die Luft 228.000 Tonnen Stickstoff pro Jahr (2018) eingebrach­t – jeweils zur Hälfte in Form von Stickoxide­n aus Motoren und von Ammoniak aus der Tierzucht. Diese Gase werden vom Wind herantrans­portiert und vom Regen ausgewasch­en. Hauptverur­sacher sind Deutschlan­d, Polen und Dänemark, gefolgt vom Schiffsver­kehr auf der Ostsee (Atmospheri­c Environmen­t 253, 118377).

Diese Einträge sind in jüngster Zeit etwas gesunken (zumindest bei Stickoxide­n), eine weitere Reduktion (v. a. bei Ammoniak) ist laut den Forschern möglich, aber nicht einfach zu erreichen. Doch selbst wenn es gelingt, das HELCOM-Ziel von 792.000 Tonnen Gesamteint­rag zu erreichen, wird die Ostsee auch in Zukunft ein trübes Gewässer sein. Ein bleibendes Vermächtni­s des Menschen.

Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Wissenscha­ftskommuni­kator am AIT.

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