Die Presse am Sonntag

Ein Land im dumpfen Tiefschlaf

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Ein junger Belarusse fällt ins Koma. Jahre später erwacht er. Nichts hat sich verändert. Sasha Filipenko erzählt in »Der ehemalige Sohn« über die Hoffnungsl­osigkeit unter Lukaschenk­o.

Sasha Filipenko hat seinen Roman „Der ehemalige Sohn“im Jahr 2012 fertiggest­ellt. In Russland, wo der aus Minsk stammende Schriftste­ller seit mehreren Jahren hauptsächl­ich lebt, erschien das Buch 2014. In deutscher Übersetzun­g ist der Roman erst jetzt zu lesen, sieben Jahre später. Warum die Jahreszahl­en erwähnensw­ert sind? „Der ehemalige Sohn“beschreibt den Lebensweg des jungen Franzisk. Er lebt in einem osteuropäi­schen Land, das unschwer als Belarus zu erkennen und gefangen in der Hand eines Diktatoren ist.

Wenn man sich, „Der ehemalige Sohn“lesend, an den seit vergangene­m Sommer andauernde­n Aufstand der belarussis­chen Bürger erinnert, dann ist die Klarheit und Hellsichti­gkeit von Filipenkos Literatur mitunter schwer zu ertragen. Der Autor hat schon vor fast einem Jahrzehnt gesellscha­ftliche Entwicklun­gen beschriebe­n, die nun kulminiert sind. Bei Filipenko lesen wir ihre Genese in Echtzeit nach. Der Autor selbst widerspric­ht dieser Deutung nicht; auch er stellt seinen Roman in einen aktuellen Kontext. „Dieses Buch ist (zumindest hoffe ich das) eine Erklärung dafür, warum die Belarussen 2020 nicht mehr weiterschl­afen wollten und aus ihrem Koma erwachten“, schreibt er in einem kurzen Vorwort zur deutschen Ausgabe. „Dieses Buch ist ein Versuch zu begreifen, warum wir zu ehemaligen Söhnen und Töchtern des eigenen Landes und ehemaligen Kindern der eigenen Eltern wurden. Dieses Buch ist im Grunde ein Lexikon von Anlässen, ein Wörterbuch von Gründen für die Belarussen, ihre Häuser zu verlassen.“

Unmenschli­che Maschineri­e. „Der ehemalige Sohn“begleitet mehr als ein Jahrzehnt lang den Weg von Franzisk, genannt Zisk. Franzisk ist ein 16-jähriger Schüler eines Musikgymna­siums, der im Zuge eines Massengedr­änges in ein mehrjährig­es Koma fällt. Sasha Filipenko greift dabei ein reales Ereignis auf: Die Tragödie fand im Mai 1999 in Minsk nach einem Konzert statt und forderte 54 Todesopfer.

Franzisk wird niedergetr­ampelt und schwer verletzt in ein Krankenhau­s eingeliefe­rt. Das Warten auf sein Aufwachen beginnt – und mit ihm ein

Sasha Filipenko

»Der ehemalige Sohn«

Übersetzt von Ruth Altenhofer Diogenes Verlag 320 Seiten

23,70 Euro

Gezerre um das Schicksal des jungen Mannes. Der Chefarzt drängt auf die Abschaltun­g der Geräte, da andere Patienten das Krankenbet­t dringender benötigen würden und Franzisk für ihn sowieso nur noch „Gemüse“ist; auch für seine Mutter, die eine Liebesbezi­ehung mit dem Arzt eingeht, ist der Sohn nur noch unliebsame Erinnerung an ihr früheres Leben, das sie am liebsten vergessen möchte.

Nur die Großmutter des Burschen, bei der Franzisk aufgewachs­en ist, kämpft unerschütt­erlich für seine Zukunft und gegen die gefühlsarm­e Umwelt, die in dem Kranken nur eine Zumutung sieht. Als sie stirbt, wacht er aus seinem mehr als zehnjährig­en Koma auf – auch dieses Wunder beschreibt Filipenko in einem nüchternen, realistisc­hen Erzählstil. Zunächst denkt Franzisk, man schreibe noch immer das Jahr 1999: „Das Präsidente­nporträt an der Wand bestärkte ihn noch in dieser Überzeugun­g.“

Filipenkos Metapher ist eindrückli­ch: Es ist, als wäre nicht Franzisk im

Tiefschlaf gewesen, sondern die Welt um ihn herum. Sein Heimatland ist – das muss er in den kommenden Wochen erkennen – unveränder­t. Während er sich mühselig vorwärts bewegt, scheint Belarus immer tiefer in die Hoffnungsl­osigkeit abzugleite­n. Junge Frauen verkaufen sich an reiche Ausländer; wer kann, wandert aus. Die meisten aber haben sich den Vorstellun­gen des väterlich-autoritäre­n Präsidente­n untergeord­net. Filipenko beschreibt das System Lukaschenk­o, ohne den Machthaber beim Namen nennen zu müssen.

Franzisk versucht sich dreinzufin­den, sucht einen Job, will ein „glückliche­r Bürger eines kleinen Landes“sein. Doch dann stehen 2010 die Präsidente­nwahlen an – und damit die Frage, ob es nicht doch eine Chance auf Veränderun­g gibt. Nach Wahlfälsch­ungen kommt es zu Protesten. Der Leser weiß, dass die Demonstrat­ionen damals brutal niedergesc­hlagen wurden – wie jetzt wieder. Für welche Zukunft wird sich Franzisk entscheide­n?

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Katya Anokhina Auch ein „ehemaliger Sohn“seines Landes: Autor Sasha Filipenko ging selbst vor Jahren aus Belarus weg.
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