Demut auf den Dächern der Welt
Die höchsten Berge sind ihre Lehrmeister. Als erste Frau schafft es Gerlinde Kaltenbrunner, mit Willensstärke und Respekt vor der Natur sämtliche Achttausender-Gipfel zu besteigen. Ohne Fixseile, Sauerstoffmaske und Unterstützung von Sherpas.
Der K2 hat ihr die Grenzen gezeigt, sie immer wieder zum Umkehren gezwungen.
Als sie 16-jährig einen Diavortrag über den K2, den zweithöchsten Berg der Welt sieht, weiß die Hobby-Kletterin, dass ihr die heimischen Alpen zu wenig Herausforderung sind.
Gerlinde Kaltenbrunner aus Kirchdorf an der Krems im Traunviertel träumt von diesem Moment an von Achttausender-Besteigungen im Karakorum-Gebirge und am Himalaja. Auch wenn in jenem Jahr des Diavortrags der aus ihrer Heimat stammende Bergsteiger Alfred Imitzer während eines sechstägigen Sturms am gefürchteten K2 während des Abstiegs ums Leben kommt. Insgesamt sterben 1986 am K2 – der unter Alpinisten als der schwierigste Achttausender gilt – 13 Menschen.
Das junge Mädchen verdankt ihre Liebe zu den Bergen dem Pfarrer Erich Tischler. Nach der sonntäglichen Messe nimmt er seine Ministrantin immer wieder auf Bergtouren rund um ihre
Michael Horowitz
Heimatgemeinde mit. Ihre erste echte Klettertour unternimmt sie als 13-Jährige auf den 2028 Meter hohen Sturzhahn im Toten Gebirge.
Während der folgenden Jahre beherrschen Ski-, Eis- und Klettertouren das Leben der Gerlinde, die in Wien zur Krankenschwester ausgebildet wird: „Ich habe früh einen sehr intensiven Zugang zur Natur bekommen und habe gelernt, sie zu respektieren. Der Schöpfung gegenüber achtsam zu sein – das hat mir unser Pfarrer mitgegeben. Ich bete jeden Tag zweimal, morgens und abends. Erst lasse ich durch Meditation völlige Stille und Ruhe einkehren, dann halte ich ein Zwiegespräch mit Gott.“
Ihr Lebenstraum, die Bezwingung eines Achttausender-Berggipfels, geht im Alter von 23 Jahren erstmals in Erfüllung: In Pakistan besteigt sie den Broad-Peak-Vorgipfel auf einer Höhe von 8027 Metern. Nach der Besteigung des Nanga Parbat 2003 – ihrem fünften Berg über achttausend Meter – verschreibt sie sich ganz dem Profibergsteigen.
25 Jahre lang träumt Gerlinde von der Bezwingung des K2. Ein Vierteljahrhundert nach dem Diavortrag, an einem Dienstag um 18 Uhr 18, steht Kaltenbrunner im siebenten Anlauf ganz oben – auf dem Gipfel ihres persönlichen Schicksalsberges. Als erste Frau schafft sie es, sämtliche Achttausender der Welt ohne Sauerstoffmaske, Fixseile und Unterstützung von Sherpas zu besteigen.
Der 8611 Meter hohe Titan hat Kaltenbrunner nicht nur zur Bezwingung der schwierigsten alpinen Herausforderungen motiviert, sondern der K2 hat ihr auch mehrmals die Grenzen gezeigt und sie immer wieder zum Umkehren gezwungen.
Während ihres sechsten Versuchs, die Spitze des K2 zu erreichen, stirbt am 6. August 2010 ein enger Freund rund 300 Meter vor dem Gipfel: Der schwedische Extremskifahrer Frederik Ericsson rutscht am Flaschenhals, der letzten gefährlichen Engstelle auf der
Route zur Spitze, im tiefen Schnee ab und stürzt 1000 Meter in die Tiefe.
Gerlinde befindet sich rund 40 Meter entfernt in dichtem Nebel am Eishang unter ihm: „Ich stand da wie festgefroren und dachte: Bitte! Das darf nicht sein! Ich habe mich an meinen Steileisgeräten festgeklammert und bin dann runter. Ich bildete mir ein, ich könnte Frederik finden.“Über Funk erfährt sie, dass er tief unten im Schnee vom russischen Bergsteiger Juri Jermatschek gefunden wurde. Nach Rücksprache mit Ericssons Vater entscheidet das Team um Kaltenbrunner, den Toten im Karakorum-Gebirge zurückzulassen.
Jede Achttausender-Expedition verschlingt enorme Geldsummen für Material, Vorbereitung und Lizenzen. Die Akklimatisierung dauert mehrere Wochen, man muss Depots und Zeltplätze errichten, Pfade spuren. Das Umkehren kurz vor dem Gipfel ist für jeden Alpinisten eine schicksalhafte Entscheidung – umso vernünftiger erscheint Kaltenbrunners Schritt, sechs Mal die K2-Expedition abzubrechen.
Der ewige Wettkampfgedanke des Alpinismus ist für sie nicht wichtig. Als junges Mädchen tritt sie aus dem Skiklub aus, weil sie nicht gegen Freundinnen um Bestleistungen kämpfen will. Als es darum geht, wer als erste Frau auf sämtlichen 14 Achttausendern steht, betont sie immer wieder, dass ihr