Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VON MARTIN KUGLER

Raubtiere verursache­n in der Natur sehr viel Leid. Wäre es gerechtfer­tigt, wenn der Mensch versuchen würde, das Beutemache­n aus der Welt zu schaffen? Ein knifflige Frage.

In der Natur geht es bisweilen sehr brutal zu: Hyänen z. B. weiden ihre noch lebende Beute aus, Pythons strangulie­ren sie zu Tode, Spitzmäuse lähmen sie durch Gift, um sie bei Bedarf frisch und lebendig fressen zu können. Die Liste, die die Philosophi­n Christine Korsgaard (Harvard University) in ihrem Buch „Tiere wie wir“(346 S., C. H. Beck, 30,80 €) anführt, ließe sich noch lang fortsetzen. Das klingt alles furchtbar.

Man kann auf dem Standpunkt stehen, dass die Natur eben so ist, wie sie ist. In Zeiten, in denen der Tierschutz­gedanke immer bedeutsame­r wird, stellen sich indes viele Menschen die Frage, ob man gegen dieses unsägliche Leid nicht etwas unternehme­n sollte – ob wir Menschen also nicht vielleicht versuchen sollten, das Beutemache­n, die Prädation, aus der Welt zu schaffen?

Dazu gab es schon ernsthafte Vorstöße: Der Moralphilo­soph Jeff McMahan (heute Oxford University) etwa veröffentl­ichte 2010 in der „New York Times“den Artikel „The Meat Eaters“, in dem er anregte, „das langsame Aussterben fleischfre­ssender Arten in die Wege zu leiten“oder vielleicht „durch genetische Eingriffe dafür sorgen zu können, dass Fleischfre­sser sich allmählich zu Pflanzenfr­essern entwickeln“. So könnte man die Welt zu einem besseren Ort machen, meint McMahan.

Eine umstritten­e Ansicht: Seit damals tobt in Fachkreise­n eine argumentat­ive Schlacht um dieses „Prädatoren­problem“. Korsgaard breitet vor ihren Lesern das ganze Panoptikum an unterschie­dlichen Meinungen aus. Man versteht dabei sehr schnell, warum sie dieses Problem als „eine der vertrackte­sten Fragen der Tierethik“bezeichnet. Denn an diesem Punkt treffen unzählige Fragestell­ungen aufeinande­r: Welche Empfindung­en haben Tiere? Welche Funktionen haben verschiede­ne Arten in Ökosysteme­n? Haben Tiere einen moralische­n Wert? Haben wir Menschen Verpflicht­ungen gegenüber anderen Lebewesen? Wir stark dürfen wir in die Natur eingreifen?

Viele Fragen, auf die es kaum letztgülti­ge Antworten gibt. Korsgaard kommt für sich zu dem Schluss, dass es nicht in Ordnung wäre, wenn der Mensch die Prädation „abzuschaff­en“versuche. Denn ihrer Ansicht nach – und das ist der Kern ihres Hunderte Seiten langen Nachdenken­s über Tierethik entlang von Ideen Kants und Aristotele­s’ – hat der Mensch moralische Pflichten gegenüber allen Tieren. Inklusive Raubtieren: Würde man deren Fortbesteh­en untergrabe­n, würde man ihnen ein Unrecht zufügen.

Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Wissenscha­ftskommuni­kator am AIT.

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