Hirnleiden vom Darm?
Dass aus dem Leib Übles in den Kopf steigen kann, war der antiken Heilkunde vertraut. Die moderne Medizin lernt es langsam wieder.
An einem seiner Patienten fiel Parkinson ein »beträchtlich gefüllter Magen« auf.
An einem der Patienten, bei denen der Arzt James Parkinson 1817 eine Krankheit diagnostizierte, die er Schüttellähmung nannte – Shaking palsy (Paralysis agitans) – und die später seinen Namen erhielt, fiel ihm außer dem Gefühl der Taubheit in den Armen ein „beträchtlich gefüllter Magen“auf. Dagegen wusste er ein Mittel, gegen das Leiden selbst hatte er keines, aber es verschwand, nachdem der Stuhlgang sich normalisiert hatte (Journal of Neuropsychiatry and Clinical Neurosciences 14: 2). War das eine schlichte Koinzidenz, oder beeinflusst das, was im Verdauungsapparat vor sich geht – bzw. in seiner Bakteriengemeinschaft, dem Mikrobiom – das Gehirn?
Dass aus dem Leib etwas in den Kopf steigen kann, war in der antiken Heilkunde, der griechischen vor allem, gängige Gewissheit, schwarze Galle brachte Melancholie, gelbe Jähzorn, und auch der Volksmund weiß, dass bei manchen Gefühlsausbrüchen die Galle übergegangen oder eine Laus über die Leber gelaufen ist.
Aber in der Medizin ist es in Vergessenheit geraten bzw. wurde tabuisiert, so sehr, dass Jane Foster (McMaster) 2006 eine Publikation über die Macht des Mikrobioms über das Verhalten zunächst nicht unterbrachte: Ihr war an Versuchsmäusen aufgefallen, dass die, die mit Kaiserschnitt in die Welt gebracht worden waren und kein Mikrobiom hatten – das erhalten Säugetiere erst im Blut und Schmutz des Geburtskanals –, weniger Furcht zeigten als auf natürlichem Weg geborene.
Aber das angeschriebene Journal warf das Manuskript zurück, sechs weitere folgten, erst nach fünf Jahren wurde die Arbeit gedruckt (Journal of Neurogastroenterology and Motility 18, S. 632). Ähnliche Erfahrungen musste John Cryan (Cork) machen, der einen Einfluss von Darmbakterien auf Alzheimer vermutete und auf Kongressen eisiges Schweigen erntete. Das hat sich geändert: Cryan gilt nach eigenem Bekunden heute nicht mehr als „der verrückte Kerl aus Irland“(Nature 590, S. 22): Bei etlichen Leiden des Gehirns sind Darmbakterien bzw. ihre Produkte als Beteiligte unter Verdacht geraten, bei Parkinson etwa, bei Autismus, bei ALS, einer Krankheit, die den Körper Stück für Stück lähmt, am Ende das Herz, prominenteste Betroffene waren der Spitzensportler Lou Gehrig – nach dem das Leiden auch benannt wurde – und der Physiker Stephen Hawking, Ersterer starb rasch, Letzterer lebte so lange mit ALS wie kein anderer.
Aber wie sollte das zweite Gehirn – so nennt man den Darm seiner vielen Nervenzellen wegen – das erste durcheinanderbringen, auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln? Bei Parkinson, in dem die Kontrolle über Bewegungen verloren geht – steife Muskeln, Zittern etc. –, kommen in einer dafür zuständigen Hirnregion, der Substantia nigra, Nervenzellen zu Tode. Das liegt vermutlich an fehlgefalteten Proteinen, a-Synucleinen, die zu LewyKörperchen verklumpen. Die gibt es auch im Darm, der Neuroanatom Heiko Braak (Frankfurt) bemerkte es 2003, er vermutete, dass sie durch den Vagusnerv in das Gehirn wandern (Aging 24, S. 197). Und wie kommt es zu den Fehlfaltungen im Darm? Hinter ihnen sah Robert Friedland (University of Louisville) Bakterien mit einem strukturähnlichen Protein (Journal of Alzheimer’s Disease 45, S. 349).
Vagusnerv. Die darauf bauende DarmHirn-Hypothese wird indirekt dadurch gestützt, dass viele Parkinson-Opfer lang vor den ersten Symptomen Probleme im Verdauungstrakt haben – wie der eine Patient Parkinsons –, und stärker dadurch, dass Parkinson seltener Menschen befällt, die eine einst gängige Therapie gegen Magengeschwüre erhalten haben: Der Vagusnerv wurde durchtrennt. Deshalb spritzte Ted Dawson (Johns Hopkins University) Mäusen a-Synucleine in den Darm, bei manchen zertrennte er den Vagusnerv, bei ihnen kamen keine Proteine ins Gehirn, sie änderten auch ihr Verhalten nicht. Bei den anderen gingen die Proteine durch, und die Symptome stellten sich ein, in aller Breite: „Diese Mäuse haben nicht nur die Bewegungsprobleme der Menschen, sondern auch die kognitiven, Angst, Depression und Probleme mit dem Riechen.“(Neuron 2019.05.035) – Das ist der bisher stärkste Beleg für die Hypothese, es könnte bei Parkinson allerdings auch umgekehrt sein: Die Fehlfaltungen
könnten im Gehirn entstehen und in den Darm wandern.
Klar sind nur die verklumpten Proteine, ähnliche gibt es bei anderen Hirnleiden auch, bei Alzheimer etwa und bei ALS. Auch bei Alzheimer stehen als Verursacher Bakterien unter Verdacht, und bei ALS könnten sie bzw. ihre Stoffwechselprodukte zumindest mitspielen, darauf deuteten Tests an Mäusen: ALS schreitet unterschiedlich rasch voran, und bei Mäusen ohne Mikrobiom geht es sehr rasch. Eran Elinav (Rehovot) bemerkte es (Nature 527, S. 474) und ging an die Feinanalyse des Mikrobioms. Er fand einzelne Bakterienarten, die das Leiden beschleunigten oder einbremsten, Letzteres leistete ein Bakterium mit dem Stoffwechselprodukt Nicotinamid. Das ist auch als Vitamin B3 bekannt, das gibt es als Präparat, Elinav plant einen klinischen Test.
Möglicherweise spielt der Darm auch bei Autismus mit, von einer Generation
zur nächsten: Von diesem sozialen Defizit höher betroffen – mit 79 Prozent mehr Risiko – sind Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft eine Infektionskrankheit hatten. Die kann Immunzellen überaktiv machen – T-17-Helfer –, und die produzieren im Übermaß einen Botenstoff, Interleukin-17, der ist bei Autismus unter Verdacht. Aber nicht jedes Kind einer infizierten Mutter ist betroffen, irgendetwas ist noch im Spiel, möglicherweise sind es wieder besondere Darmbakterien: Als Jun Hu (Harvard) sie in Mäusen ausschaltete, blieb die Überproduktion von T-17-Helfer-Zellen bzw. IL-17 aus, die Symptome blieben es auch (Nature 549, S. 528).
Andere Forscher sind auf der Spur von Bakterien, die Hirnleiden mildern sollen, das zieht Risikokapital an, Kevin Mitchell (Dublin) warnt deshalb, einfache Lösungen seien bei so komplexen Krankheiten „etwas unverantwortlich“(Nature 590, S. 22). Aber generell bleibt sein Kollege Cryan, auch in Nature, zuversichtlich: „Anders als bei Genen, bei denen man nichts tun kann als die Eltern oder Großeltern verantwortlich zu machen, ist das Mikrobiom modifizierbar. Das ist wirklich aufregend.“
Auch bei Autismus gerieten Darmbakterien unter Verdacht, als Co-Faktoren.