Auch Hippies tanzen nicht immer
Wenn das ländliche Idyll nicht hält, was es versprochen hat, und allzu Menschliches zum Stolperstein wird. Kristina Hauff verknüpft in »Unter Wasser Nacht« zahlreiche Themen.
Idyllisches Landleben: zwei Familien, Freunde aus der Studentenzeit in Hamburg, nunmehr Väter und Mütter, mit ihren Kindern daheim im Grünen. Das Haus der einen Familie steht im Garten direkt neben dem Haus der anderen, es gibt gemeinsame Abendessen, knisternde Lagerfeuer, Spaziergänge zum nahen Fluss. Ja, das hat ein bisschen was von einer kleinen Hippiekommune.
Doch auf einmal ist alles anders. Auf einmal gibt es kein buntes, gemeinsames Treiben mehr, man grüßt sich gerade noch, für Small-Talk-Floskeln a` la „Wie geht’s?“ist kaum mehr Zeit. Was ist passiert? Und was hat es mit der Ankunft einer mysteriös-faszinierenden Frau aus dem nahen Dänemark auf sich, die, scheint’s, flugs die Köpfe aller Protagonisten verdreht?
Zeitsprung: Dreizehn Monate zuvor hat sich ein tragisches, folgenreiches Unglück ereignet. Aaron, der elfjährige Sohn von Sophie und Thies, ist tot in der Elbe aufgefunden worden. Die Polizei konnte den Hergang des Unglücks nicht klären, und die Tatsache, dass der benachbarte Vater, Bodo, Kriminalbeamter ist, erleichtert die angespannte Situation nicht.
Wie gehen die Eltern mit dem Tod ihres Kindes um? Entfremdung trifft die Entwicklung zwischen Thies und Sophie am besten. Sie können sich kaum mehr im selben Raum aufhalten, nicht mehr miteinander reden, das Zimmer von Aaron ist verschlossen und völlig unverändert geblieben.
Heile Familie? Thies ist Lehrer von Beruf, seit geraumer Zeit aber beurlaubt; Sophie flüchtet sich regelmäßig an ihren Arbeitsplatz in der Stadt. Der Anblick der vermeintlich heilen Familie nebenan und die Ungewissheit, ob deren Kinder womöglich mehr über den Tod ihres Sohnes wissen, verstärken das eigene Unglück.
Und dann tritt sie ins Leben der beiden Familien – sie, deren Rolle bis zuletzt unklar bleibt. Erst bemerkt Thies auf einem seiner rastlosen Spaziergänge die Frau auf der Fähre, die eine so besondere Ausstrahlung hat, dass er nicht anders kann, als ihr in die Stadt zu folgen; kurze Zeit später hilft sie Sophie nach einem Radunfall. Sophie stellt Mara, die Frau aus Dänemark,
Kristina Hauff:
„Unter Wasser Nacht“
Hanserblau-Verlag 288 Seiten
20,60 Euro
Thies vor, später auch den Nachbarn. Binnen kurzer Zeit wird Mara für alle vier Erwachsenen zu einer besonderen Begleiterin. So sehnt sich Sophie täglich nach Gesprächen mit Mara, Thies’ tot geglaubtes Inneres wird sexuell stimuliert, Inga erkennt eine starke Verbindung zwischen ihrer Tochter und Mara – während Bodo, der KripoBeamte, als Einziger Skepsis hegt.
Mara, bezeichnenderweise aufgewachsen in Christiana, symbolisiert für die Protagonisten eine Art absoluter, unendlicher Freiheit. So scheint jeder von ihnen etwas auf sie zu projizieren oder von ihr zu erwarten, vielleicht ist es auch die unwahrscheinliche Hoffnung auf Absolution. Mara fungiert gewissermaßen als Katalysator, indem ihre Ankunft Systemänderungen bei allen Beteiligten hervorruft: sei es hinsichtlich der Persönlichkeit, Befindlichkeit, sei es hinsichtlich der schwierigen nachbarschaftlichen Situation.
Ist Mara womöglich gekommen, um das Idyll wiederherzustellen? – Tatsächlich aber hat die erträumte Freiheit
nicht nur Vorteile, wie langsam deutlich wird, als mehr über Mara und den Grund ihrer Ankunft bekannt wird. Plötzlich tauchen auch neue Puzzleteile zu Aarons Tod auf: So wird die Herkunft des Armbands, das bei ihm gefunden wurde, ebenso geklärt wie die Frage, was Mara im Haus von Ingas Mutter zu suchen hat.
Sehr voller Roman. Es ist ein sehr voller Roman, den Kristina Hauff geschrieben hat. Anfangs wird Spannung aufgebaut, man will mehr über die Protagonisten, ihre Verstrickungen wissen, aber irgendwann erscheinen der Themen zu viele: Freundschaft, Nachbarschaft, Beziehung, dysfunktionale Familie, Problemkind, generationenübergreifende Geheimnisse, Mystery-Elemente, Verrat, ebenso zu viele Superlative: die besten Freunde, beste Nachbarschaft, beste Familie. Das Ende wird den eröffneten Erzählsträngen nicht ganz gerecht – es wirkt zu einfach, zu banal. Oder läuft es trotz aller Widrigkeiten im Leben genau darauf hinaus?