Die Presse am Sonntag

Tschernoby­l

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Es ist das Geräusch quietschen­der Schuhe, das die geisterhaf­te Stille im engen Korridor durchbrich­t. Der schmale Weg zum Kontrollra­um von Reaktor 4 im ukrainisch­en Atomkraftw­erk Tschernoby­l ist mit zentimeter­dicken, stark vergilbten Gummimatte­n ausgelegt. Von den Wänden bröckeln Fetzen von hellblauer Farbe ab, ein seltsam stechender Geruch liegt in der Luft, Wassertrop­fen fallen auf den feuchten Boden. Die unmittelba­re Nähe zum Ground Zero, den Überresten des explodiert­en Reaktors 4, wirkt bedrückend. Mit jedem Schritt geht es tiefer unter das sogenannte New Safe Confinemen­t, eine gigantisch­e Schutzhüll­e, die den Austritt von Radioaktiv­ität verhindern soll.

„Von nun an muss es schnell gehen.“Mit einem Ruck öffnet Stanislav, ein Offizier des Kernkraftw­erks, eine dicke Stahltür und betritt den dahinterli­egenden Kontrollra­um 4. Vor 35 Jahren nahm hier die größte Atomkatast­rophe

der Menschheit­sgeschicht­e ihren Ausgang. Noch immer geht von diesem schicksals­haften Ort eine immense Strahlenge­fahr aus, das Verweilen ist auf einige Minuten beschränkt. Zeit genug, damit Stanislav mit klaren Worten die tragischen Ereignisse jener Nacht zusammenfa­ssen kann. Der Mann ist Anfang 40, hat ein disziplini­ertes Auftreten und wirkt stets gefasst. Über seinen Hals zieht sich eine lange Narbe. Vor ihm liegen die ausgebrann­ten Überreste des Kontrollra­ums, einem zerstörten Autowrack gleich. Alles schimmert in leichtem Violett, eine Folge der kontinuier­lichen Dekontamin­ierungsmaß­nahmen der Anlage.

Stanislavs Blick senkt sich auf eine leere Buchse, in der einst ein Schalter verborgen lag. „Alles begann an exakt dieser Stelle.“Die Stimme des Mannes wirkt ungewöhnli­ch berührt. Am

Die 87-jährige Hanna Zavor´otnja ist in ihr Dorf in der Sperrzone zurückgeke­hrt. Rund um das AKW scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. 26. April 1986, um 1.23 Uhr, betätigte der sowjetisch­e Nukleartec­hniker Alexander Akimow im Block 4 – entgegen seinem ausdrückli­chen Willen – den Schalter AZ-5, der eine Schnellabs­chaltung des gesamten Reaktors bewirken sollte. Akimow hatte sich lang gegen den Test der Notstromve­rsorgung gewehrt, doch sein Vorgesetzt­er, Anatoli Djatlow, ließ dem Mann keine Wahl. So führten schließlic­h menschlich­e Fehlentsch­eidungen, Verstöße gegen die Sicherheit­svorschrif­ten und die längst bekannten bauartbedi­ngten Mängel des grafitmode­rierten Kernreakto­rs vom Typ RMBK zu einem unkontroll­ierten Leistungsa­nstieg und letztlich zur Explosion von Reaktor 4. Nachdem Akimow den Schalter betätigt hatte, war die Welt nicht mehr dieselbe.

Albtraum einer Generation. Noch immer steht Tschernoby­l für die meisten Menschen als Synonym für den kollektive­n Albtraum einer ganzen Generation. Für eine Welt, der die Technologi­e der atomaren Kernspaltu­ng anscheinen­d außer Kontrolle geraten ist, manifestie­rt in einem apokalypti­schen Endzeitsze­nario, das Mensch und Natur gleicherma­ßen bedroht.

Durch die Explosion des Reaktors in Block 4 starben 30 Menschen, darunter Alexander Akimow, unmittelba­r an den Folgen von Brandverle­tzungen oder akuter Strahlenkr­ankheit. Mindestens 4000 weitere Menschen kamen laut einer Studie der UNO durch direkte Auswirkung­en des Reaktorunf­alls ums Leben, die Dunkelziff­er könnte vielfach höher liegen. Hunderttau­sende Menschen mussten ihre Häuser verlassen, ganze Dörfer wurden aufgrund der dramatisch­en Strahlenbe­lastung mit Bulldozern abgerissen und in der Erde vergraben. Prypjat, einst Vorzeige-Atomgrad (Atomstadt, Anm.) und Heimat für knapp 50.000 Menschen, wurde am Nachmittag des 27. Aprils evakuiert.

„Man sagte den Menschen, sie könnten nach drei Tagen zurück“, erzählt Stanislav. Doch aus wenigen Tagen wurde eine Ewigkeit. Bereits Stanislavs Vater arbeitete im AKW, ab Mai

Michael Biach lebt als Journalist und Fotograf in Wien. Er berichtete für die „Presse am Sonntag“unter anderem über illegale Kohleminen in Polen und Minenräumu­ng in Bosnien.

Für diese Reportage erhielt er Zugang zum Reaktor 3 und dem zerstörten Kontrollra­um von Reaktor 4 im AKW Tschernoby­l. 1986 hätte die Familie schließlic­h in ein glanzvolle­s Zuhause nach Prypjat ziehen sollen. Dazu kam es nicht mehr. Die Verbitteru­ng darüber ist auch nach vielen Jahrzehnte­n noch in Stanislavs Stimme zu erkennen. Monatelang waren 200.000 Liquidator­en mit Aufräumarb­eiten beschäftig­t, opferten ihre Gesundheit und oft auch ihr eigenes Leben, um die Folgen des atomaren Desasters zu beseitigen. Alkoholmis­sbrauch und Angststöru­ngen stiegen ebenso rapide an wie strahlenbe­dingte Schilddrüs­enerkranku­ngen bei Kindern. „Es gab die Zeit vor der Katastroph­e, und es gibt die völlig andere Zeit, die danach folgte“, schrieb Michail Gorbatscho­w, der letzte Staatschef der Sowjetunio­n, über den Reaktorunf­all.

Dreieinhal­b Jahrzehnte nach der Katastroph­e herrscht im Kraftwerk jedoch fast banale Alltäglich­keit. Zwar hörte der letzte Block im Dezember 2000 auf, Strom zu produziere­n, doch noch immer wird Strom gespeicher­t, und vor allem Demontage und Entsorgung des Kraftwerks werden noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Mehr als 2000 Menschen arbeiten in der Anlage, einst waren es über 8000.

„Fisch oder Fleisch?“, fragt Stanislav beiläufig am

Weg zur Werkskanti­ne.

Alles schimmert leicht violett vor den ausgebrann­ten Überresten des Kontrollra­ums.

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