Der Kaiser, der sein Volk kennenlernte
Inkognito bereiste der Sohn Maria Theresias, Kaiser Joseph II., die Länder, die er beherrschte. Bis in die hintersten Winkel. Er sammelte Bittschriften und staunte über die Unzulänglichkeiten der Verwaltung. Er wollte es im Geist der Aufklärung besser machen.
Die barocke Festung Spielberg in Brünn war einst ein gefürchtetes Gefängnis. Hier saßen Feinde der Habsburgermonarchie, „Kerker der Völker“hieß daher der schauerliche Ort. 1766 war in einem der feuchten Verliese ein junger Mann eingekerkert. Freilich nur für ein paar Stunden. Es war eine Art Test, dem sich Kaiser Joseph II. auf einer seiner Reisen unterzog. Es war die erste, die er inkognito, als Graf von Falkenstein, unternahm, um sein Reich kennenzulernen. Wie Ende des 17. Jahrhunderts Zar Peter I. mit seiner „Großen Gesandtschaft“machte er sich in der Absicht, nicht erkannt zu werden, auf Erkundungstour.
Die Reise war schon seit jeher eine Möglichkeit von Repräsentation monarchischer Herrschaft. Sie fand in der Spannbreite von Ehrenpforte und Anonymität statt – eine alte Tradition. Schon in der Antike tarnten sich Götter, wenn sie die Menschen besuchten, im Mittelalter trat der Fürst seiner zukünftigen Ehefrau in Verkleidung gegenüber, um sie in Augenschein zu nehmen. In der Neuzeit wurde das Inkognito Bestandteil fürstlich-adliger Etikette.
Zu den Fixpunkten zählten die Wahl eines standesmäßig heruntergestuften Pseudonyms, etwa vom Landesfürsten zum Grafen, der Verzicht auf jegliche Öffentlichkeit und die damit verbundenen staatstragenden Zeremonien. Das beschleunigte die Reisen und sparte Kosten wegen der Personalreduktion. Doch es funktionierte meist nicht so wie gewollt: Zar Peter I. wurde trotz eines starrsinnigen Festhaltens am Inkognito immer schon von Delegationen erwartet, und auch der Name Graf von Falkenstein war bald in ganz Europa berühmt und Gegenstand zahlreicher Anekdoten.
Keine Etikette. Joseph verbat sich zwar bei der Durchreise unter Androhung von Ungnade „öffentliche Ehrenbezeichnungen, Ausrückungen, Bewillkommnungen und Losbrennungen eines Geschützes“, geschweige denn Musik oder Festivitäten. Doch auch wenn voreilige Bürgermeister wussten, wessen Besuch da bevorstand und lächerliche und armselige Vorbereitungen
Monika Czernin
„Der Kaiser reist inkognito“
Joseph II. und das Europa der Aufklärung Penguin Verlag
384 Seiten, 22 € mit Abbildungen
trafen: Diese Art des Unterwegsseins ersparte dem Kaiser die ungeliebte Etikette und ermöglichte doch so etwas wie eine authentische Begegnung mit den normalen Leuten. Wie ausgehungert und armselig gekleidet sie waren, konnte kein besorgter Ortsvorsteher verbergen.
Um das zu erreichen, was der Sohn und Mitregent Maria Theresias vorhatte, nämlich den schwer zu kontrollierenden ererbten Haufen an Ländern zu einem totum zusammenzuführen, mit einheitlichen Institutionen und zentraler Verwaltung, musste er die Verhältnisse erst einmal kennenlernen, die Daten sammeln und daraus seine Schlüsse ziehen. Erst dann konnte er sie nach den Prinzipien der Aufklärung ändern: „Ich habe keine Vorurteile gehabt. Aber gesehen, gehört, kombiniert“, so Joseph II.
Dazu verordnete er sich eine Reihe von Reisen bis in die hintersten Winkel seines Reichs und durch die benachbarten europäischen Länder. Rund 50.000 Kilometer legte er zurück, zehntausende Bittschriften sammelte er ein. Doch mit den damals üblichen Kultur- und Bildungsreisen hatte das wenig gemeinsam. Das Faktum ist bekannt, doch es gab bis zuletzt wenig wissenschaftliche Literatur allein zur Reisetätigkeit des Kaisers. Monika Czernin, die sich als Autorin und Filmemacherin zu Themen der österreichischen und europäischen Geschichte einen Namen gemacht hat, hat sich nun dieses Themas angenommen. Bei Czernin ist der Platz auf den Bestsellerlisten nicht ferne, das hat sie zuletzt mit „Anna Sacher und ihr Hotel“gezeigt. Das könnte ihr auch mit dem spannenden Buch des inkognito reisenden Joseph gelingen. Dass sie mit der wenig bekannten Episode der Selbsteinkerkerung beginnt, zeigt zudem, wie genau sie die Quellen studiert hat und sie zu inszenieren vermag.
„Wenn das Reisen für jeden denkenden Menschen nützlich ist, so ist es das umso mehr für einen Souverän, der, alle Vergnügungen zurückweisend, sich nur auf die Nützlichkeit seines Tuns konzentriert“, schrieb Joseph schon kurz nach seinem Regierungsantritt 1765. Da war der Sohn die große Verheißung. Er setzte dieses Programm nach dem Tod Maria Theresias 1780 als Alleinherrscher fort, indem er unterwegs Anschauungsmaterial sammelte, um das angefangene, zu Lebzeiten durch die Zögerlichkeit seiner Mutter noch gebremste Reformprogramm zu vollenden. Mit Ungeduld, mit Brachialgewalt, kompromisslos, nur wenige wollten seinen „Reveries“, seinen Träumereien, folgen. Es war sein Alleinstellungsmerkmal, die Möglichkeit des Scheiterns inkludiert.
Um das Schicksal der Insassen in Gefängnissen zu erforschen, ließ er sich einsperren.
Joseph verbrachte ein Viertel seiner Regierungszeit, schätzt man, auf diese Weise, in der Kutsche, auf dem Rücken von Pferden, bis hin nach Frankreich, in die Österreichischen Niederlande und mit Zarin Katharina der Großen auf die Krim. Für seine Mutter waren dies „terribles voyages“, besonders wenn es ihn zum Preußenkönig, Friedrich II., hinzog, seinem heimlichen Idol, dem Erzfeind Maria Theresias. Ihn zu treffen, wurde ihm zur Obsession, 1769 war es soweit, es kam zum Gipfeltreffen der beiden aufgeklärten Monarchen.