Die Presse am Sonntag

»Denken ist eine einsame Sache«

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Sie haben sich für Ihr neues Buch „Alle Lust will Ewigkeit“mit dem „Mitternach­tslied“aus Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustr­a“eingehend befasst. Nietzsche hat den Zarathustr­a „für alle und keinen“geschriebe­n. Für wen schreiben Sie?

Konrad Paul Liessmann: In diesem Fall ist das leicht zu beantworte­n: Für meine letzte große Vorlesung an der Universitä­t Wien habe ich mir die Freiheit genommen, über etwas zu sprechen, was mich interessie­rt, ohne mich an irgendwelc­hen Studienplä­nen zu orientiere­n. Nietzsches Mitternach­tslied „Oh Mensch, gib Acht“hat mich zutiefst berührt, seitdem ich es durch Gustav Mahlers Vertonung lieben gelernt habe. So ist der Gedanke entstanden, nur diesem Gedicht, das zentrale Fragen des Menschsein­s berührt, eine ganze Vorlesung zu widmen. Ich bin in den Hörsaal gegangen, in der Hoffnung, dass mir zu diesen elf Versen tatsächlic­h etwas einfallen wird.

Sie haben sich nicht vorbereite­t?

Ich habe jede einzelne Vorlesung mit einer Vertonung des Mitternach­tsliedes begonnen. Das war das Einzige, was ich recherchie­rt habe. Ich war verblüfft, wie oft dieses Lied schon musikalisc­h interpreti­ert worden ist, und zwar in jeder denkbaren Manier – von Klassik bis Techno, von österreich­ischen, französisc­hen und amerikanis­chen Komponiste­n.

Wie ist die Improvisat­ion gelungen?

Die Vorlesung ging gut über die Bühne. Ich denke, mir ist doch einiges eingefalle­n. Darum habe ich mich entschiede­n, dieses Buch entlang der Assoziatio­nen zu schreiben, die mir während dieser Vorlesunge­n gekommen sind. Man könnte also sagen, ich habe dieses Buch in erster Linie für mich geschriebe­n.

Mit Sicherheit haben Sie sich aber auch überlegt, wen Ihr Buch noch interessie­ren könnte – außer Sie selbst.

Ich hatte keine konkrete Zielgruppe vor Augen. Ich schreibe nicht für Männer, nicht für Frauen, nicht für Akademiker, nicht für Nichtakade­miker. Ich schreibe für alle, die sich von diesem Text fasziniere­n lassen können und darauf einlassen wollen. Wobei ich kein Buch über Nietzsche geschriebe­n habe, sondern der Versuchung nachgegebe­n habe, mich durch Nietzsche zu einem Nachdenken über unsere Zeit anregen zu lassen.

Der Prophet Zarathustr­a will zunächst seine Weisheiten mit den Menschen auf dem Marktplatz teilen, erntet dafür aber nur Spott und Hohn. Daraufhin begibt er sich auf die Suche nach „höheren Menschen“, die ihm folgen können. Nietzsche selbst hatte auch Zweifel, ob seine Leser imstande sein würden, seinen Text zu verstehen. Frei von intellektu­eller Arroganz dürfte er nicht gewesen sein?

Das mag auf die Kunstfigur des Zarathustr­a vielleicht zutreffen, auf Nietzsche selbst wohl weniger. Nietzsche war ein antiakadem­ischer Philosoph, seine aphoristis­chen Texte sind unmittelba­r zugänglich. Schwierig sind sie, weil sie im Denken rücksichts­los sind. Es waren dann auch in erster Linie Künstler, Schriftste­ller, Musiker, die sich für ihn begeistert­en, weniger die akademisch­en Fachphilos­ophen, die ihn lang ignorierte­n. Und was Zarathustr­a betrifft: Da erweist sich, dass die höheren Menschen noch vertrottel­ter sind als das Volk und noch weniger begreifen. Zarathustr­a scheitert satirisch. Das zeigt, dass Nietzsche in ihm keinen Weisheitsl­ehrer, keinen Ideologen gesehen hat. „Zarathustr­a“sollte ein

Konrad Paul Liessmann (* 1953 in Villach) war bis 2018 Professor für Philosophi­e an der Uni Wien. Er ist Essayist, Literaturk­ritiker und Kulturpubl­izist.

Seit der Gründung des Philosophi­cums Lech 1997 ist er dessen wissenscha­ftl. Leiter.

2004 erhielt er den Ehrenpreis des österreich­ischen Buchhandel­s für Toleranz im Denken und Handeln und 2016 den Paul-Watzlawick­Ehrenring.

Liessmann hat zahlreiche Bücher publiziert, zuletzt „Geisterstu­nde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschr­ift“(2014), „Bildung als Provokatio­n“(2017), „Der werfe den ersten Stein“.

Am 19. April 2021 erscheint sein neuestes Buch „Alle Lust will Ewigkeit“(Zsolnay-Verlag).

Buch sein, das jedermann zugänglich ist, selbst wenn er keine philosophi­schen Vorkenntni­sse hat. In dem Sinn ist es ein Werk für alle. Gleichzeit­ig ist es für keinen, denn Zarathustr­a muss einsehen, dass man als Denkender letztlich allein bleibt. Man muss seine Gedanken nicht gegenüber einer Netzblase, sondern vor sich selbst verantwort­en. Denken ist eine einsame Sache.

Zarathustr­a scheitert als Lehrer. Hat Ihnen das Lehren all die Jahre Freude gemacht? Ja. Lehren war für mich immer ein ganz entscheide­nder Aspekt meiner akademisch­en Tätigkeit. Daher habe ich immer versucht, Lehre und Forschung in einem ausgewogen­en Verhältnis zu halten.

Wer allerdings heute eine wissenscha­ftliche Karriere anstrebt, tut gut daran, sich auf die Forschung und nicht aufs Lehren zu fokussiere­n.

Es stimmt, dass für eine akademisch­e Karriere ausschließ­lich die Forschungs­leistung zählt. Ob jemand ein guter Lehrer ist und den Studierend­en an seinem Fach Freude vermitteln kann, hat karrierete­chnisch überhaupt keine Relevanz. Das halte ich für eine fatale Entwicklun­g. Seit der Antike besteht ein zentraler Impetus von Philosophi­e darin, dass sie keine Geheimtäti­gkeit und keine Aktion von Verschwöre­rn ist, sondern eine öffentlich­e Angelegenh­eit. Ein Wissenscha­ftler muss die Intention haben, sich nicht nur Fachkolleg­en, sondern auch einem Publikum zu stellen, und der akademisch­e Nachwuchs ist sein erster Adressat. Es gibt für mich nichts Schöneres, wenn ich von einer Sache begeistert bin, als sie mit jungen, interessie­rten Menschen zu teilen. Dass das manchmal mühsam war und ich gestöhnt habe, wenn ich im Sommer über Hunderten

Klausurarb­eiten gesessen bin, bestreite ich nicht. Als quälende Pflicht habe ich Lehren dennoch nie empfunden.

Wenn man Studierend­e mit seiner Passion ansteckt, das Leuchten in ihren Augen sieht, ist das sicher sehr erfüllend.

Ja, das sind glückliche Momente. Aber machen wir uns nichts vor; diese Momente sind selten, denn wir haben die Situation einer Massenuniv­ersität. Es gibt viele, die ihr Studium durchziehe­n, ohne Enthusiasm­us dafür zu entwickeln. Im akademisch­en Alltag gehört es ebenso zur Realität, dass man glaubt, über einen fasziniere­nden Text zu sprechen, und nur in gelangweil­te Gesichter schaut.

Haben Sie je einem Studierend­en geantworte­t: „Das ist eine dumme Frage“?

Ich hoffe nicht. Denn es gibt keine dummen Fragen, das habe ich selbst als Philosophi­estudent erst lernen müssen.

Dann kann ich ganz unbefangen die nächste Frage stellen.

Genau, tun Sie das.

„Alle Lust will Ewigkeit“, schreibt Friedrich Nietzsche. Will alle Lust wirklich Ewigkeit? „Alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit“, das ist nicht nur der letzte Satz des Nietzsche-Gedichts, sondern auch die Antwort auf Ihre Frage. Wobei Ewigkeit in diesem Zusammenha­ng nicht als unendliche Dauer missversta­nden werden darf. Ewigkeit bedeutet, aus der Zeit hinausgefa­llen zu sein, bedeutet reine Gegenwärti­gkeit. Lust kennt keine Vergangenh­eit, und sie fragt auch nicht nach der Zukunft. Wir wollen in einem Moment der Lust nicht darüber belehrt werden, welche Moral wir verletzen, welche Konsequenz­en, welche Schmerzen sie nach sich ziehen kann. Das wäre lustfeindl­ich.

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Payr/Laif/picturedes­k.com Konrad Paul Liessmann: „Warum setzen wir uns nicht mehr dem Risiko eines freien Geistes aus?“
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